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Gesellschaft & Religion Kinderkriegen, nein danke! «Fräulein Doktor» schrieb Geschichte

Ruth Gattiker war eine Pionierin der Anästhesie. Ihre Biografie erzählt von einer starken Frau, die sich auch heute noch durchsetzt. Die Autorin Denise Schmid durfte die Biografie über die eigenwillige Frau schreiben – aber ohne «Frauenzeugs».

1969 wurde in der Schweiz die erste Herztransplantation durchgeführt. Ruth Gattiker war damals die Anästhesistin.

«Mich fasziniert ihre Unabhängigkeit im Denken. Sie lässt sich nicht beeindrucken von Vorurteilen oder gesellschaftlichen Normen», sagt Denise Schmid. Die Autorin hat die Biografie «Ruth Gattiker. Pionierin der Herzanästhesie» geschrieben.

Diese Frau wisse, was sie wolle – und mache, was sie wolle. Das sei schon immer so gewesen. Gegen den Willen ihres Vaters studierte Gattiker Medizin. Für die junge Frau war klar: «Ich will arbeiten und nicht Kinder kriegen.»

Die «beste Anästhesistin der Welt»

In den 1960er-Jahren ist Ruth Gattiker eine der ersten Frauen in der Anästhesie. Sie arbeitet am Kantonsspital Zürich mit Åke Senning, einem renommierten Herzchirurgen. Dieser kann sich zwar anfangs nicht vorstellen, mit einer Frau im Operationssaal zu stehen. Doch dank ihrer Beharrlichkeit, ihrer Intelligenz und Begabung erreicht sie ihr Ziel.

Später bezeichnet Senning sie als «beste Anästhesistin der Welt». Im April 1969 fragt er die 46-Jährige, ob sie bereit sei für die erste Herztransplantation der Schweiz.

Gattiker hat zwar noch keine Erfahrung auf diesem Gebiet. Aber sie weiss, dass sie es kann. Heute sagt sie ganz trocken: «Wir haben einen Patienten gerettet. Das war alles.»

Frau und Mann in weissem Kittel mit verschränkten Armen.
Legende: Im Männerteam von Åke Senning (rechts) hat Ruth Gattiker (links) sich durchgesetzt. Keystone

Nie diskriminiert

Der «Tages Anzeiger» berichtet von der Operation und auf einem Foto sieht man das Ärzteteam mit «Frl. Doktor Ruth Gattiker». Dabei ist die ledige Frau inzwischen Oberärztin und eine erfahrene Anästhesistin. «Frau Doktor» nannte man damals nur die Ehefrau eines Arztes.

Gattiker fühlte sich wegen ihres Geschlechts nie diskriminiert. Man müsse sich in einem Männerteam einfach durchsetzen mit Kompetenz und grossem Arbeitseinsatz.

Sie wollte auch nicht, dass Denise Schmid das in ihrer Biografie hervorhebt: «Mit diesem Frauenzeugs müssen Sie mir nicht kommen.»

Zeitgeist: Liebe zwischen Frauen ist Tabu

Im Buch «Ruth Gattiker. Pionierin der Herzanästhesie» geht es nicht allein um das Leben einer Ärztin. Die Historikerin Denise Schmid gibt auch Einblick in interessante Momente der Medizingeschichte. Sie erzählt viel über den Zeitgeist und das Milieu, in dem die 1923 geborene Gattiker in Zürich Oerlikon aufwuchs.

Man lernt eine eigenwillige, starke Frau kennen, die manchmal ruppig und stachlig sein kann. Aber Gattiker hat auch andere Seiten. Als Ärztin ist sie liebevoll und fürsorglich zu Patienten und Patientinnen.

Später pflegt sie ihre Lebensgefährtin, die 11 Jahre ältere Marie Lüscher, ebenfalls eine Ärztin. 36 Jahre waren die beiden miteinander verbunden. Da die Liebe zwischen zwei Frauen zu ihrer Zeit ein Tabu war, besteht Gattiker auch heute noch auf der Bezeichnung «Freundin».

Buchhinweis

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Denise Schmid: «Ruth Gattiker. Pionierin der Herzanästhesie», Hier und Jetzt, 2017.

«Dummes Zeugs, wer will das denn lesen?»

Es war nicht einfach, Ruth Gattiker für dieses Buchprojekt zu gewinnen. Sie glaubte nicht, dass sich jemand für ihr Leben interessieren würde und sagte: «Dummes Zeugs, wer will das denn lesen?»

Nach der Zusage macht sich Denise Schmid mit viel Respekt an diese Lebensgeschichte. Sie schreibt in der Gegenwartsform. Die Biografie lebt vor allem von den vielen Zitaten Ruth Gattikers. Sie erzählt geradeaus und mit trockenem Humor Anekdoten aus ihrem langen Leben.

«Ich lebe so gerne»

Ruth Gattiker ist eine faszinierende Persönlichkeit, die auch im Alter das Leben geniesst: Sie fährt zwei- bis dreimal pro Woche von ihrem Wohnort Davos nach Zürich in die Oper oder an die Uni, wo sie noch Altgriechisch lernt.

Mit 93 ist sie so fit wie andere mit 50, spaziert täglich eine bis zwei Stunden. Über den Tod möchte sie noch nicht nachdenken. «Ich will nicht sterben. Ich lebe so gerne.»

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