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Der Krieg ist aus! «Die Nazis haben mich um meine Jugend betrogen»

Der Pole Mietek Przewrocki konnte sich im Juni 1940 in die Schweiz retten, der Deutsche Kurt Berneis flüchtete 1943 über den Rhein in den Aargau. Beide Zeitzeugen wollten nach dem Krieg nicht mehr in ihre alte Heimat zurück – und sind bis heute dankbar, dass sie in der Schweiz Zuflucht fanden.

«Mein Leben war wie ein Krimi, alles war Abenteuer», erzählt Mietek Przewrocki, wenn er sich an den Zweiten Weltkrieg erinnert. Als junger Pfadfinder hatte er sich 1939 freiwillig zur polnischen Armee gemeldet, um gegen die deutsche Wehrmacht zu kämpfen. Nach der Kapitulation Polens im September 1939 schlug er sich mit seiner Einheit via Ungarn, Jugoslawien und das Mittelmeer nach Frankreich durch.

Przewrocki und Tausende junger Polen setzten den Kampf gegen die Nazis unter französischem Oberkommando fort. Als im Juni 1940 auch «la grande nation» die Waffen strecken musste, flüchtete Przewrockis polnische Schützendivision mit einer französischen Armee über den Doubs in die Schweiz.

Mit offenen Armen empfangen

Seine Kompagnie wurde zuerst in der Nähe von Burgdorf interniert. Die Kriegsgefangenen kamen aber nicht etwa hinter Stacheldraht, sondern durften eine polnisch geführte Schule besuchen und privat wohnen. Die Bevölkerung empfing die fremden Soldaten mit offenen Armen: «Die Frauen im Dorf machten uns die Wäsche, von überall kriegten wir Konfitüre», berichtet der 93-Jährige, der heute in Gelterkinden lebt.

Mietek Przewrocki wird interviewt.
Legende: Mietek Przewrocki kämpfte in Frankreich gegen die Nazis, fand 1940 in der Schweiz Zuflucht. SRF

Die Internierten durften die Matura absolvieren und sogar studieren. In den Semesterferien arbeiteten die jungen Männer in der Land- und Forstwirtschaft. Im bündnerischen Safiental baute Mietek Przewrocki an einer Strasse mit, einem so genannten «Polenweg»: «Die Arbeit war hart, dafür erhielten wir doppelt so viele Kalorien.»

«Die Bestie Mensch ist zum Krieg machen geboren»

Der pensionierte Maschineningenieur ist der Schweiz dankbar. «Wir durften hier anstelle all jener Polen studieren, die von den Nazis ermordet wurden, weil sie Intellektuelle waren.» Nach dem Krieg heiratete er eine Zugerin, gründete mit ihr eine Familie und wurde Bürger seiner neuen Heimat.

Leider hätten die Völker nichts aus der Geschichte gelernt, resümiert der Veteran beim polnischen Gedenkstein auf dem Winterthurer Friedhof Rosenberg: «Die Menschheit wird nicht besser. Die Bestie Mensch ist zum Krieg machen geboren.»

Der «Schandfleck» der Klasse

«Als ich ins Wasser stieg, hatte ich keine Angst mehr»: Unter Lebensgefahr war der Deutsche Kurt Berneis im September 1943 bei Wallbach über den Rhein geschwommen. Grenzer hätten ihn jederzeit erschiessen können. Er hatte Glück: «Aber erst als ich ein Auto mit einem Schweizerkreuz sah, wusste ich, dass ich auf sicherem Boden war.»

Buchhinweis

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Kurt Berneis: «Stiller Heimatentzug 1941-1945». Verlag Gisela Lermann/Mainz, 1999.

Im Aargau nahm ihn eine Bauernfamilie auf. «Sie hatten Mitleid, gaben mir Decken und zu essen.» Im Dritten Reich sah der junge Deutsche keine Zukunft. Die braunen Rassenfanatiker bezeichneten den Sohn eines jüdischen Vaters und einer protestantischen Mutter als «Mischling ersten Grades»: «Ich war der ‹Schandfleck› meiner Klasse.»

Die Nazis hätten ihn um die Jugend betrogen, sagt Kurt Berneis. Trotzdem sei es ihm als Flüchtling gut ergangen. So lebte und arbeitete er mehrere Monate mit über 100 Schicksalsgenossen auf Schloss Burg im Leimental. «Wir durften im Dorf zur Schule und hatten hervorragenden Unterricht.» Hunger habe er nie leiden müssen.

Der 8. Mai 1945 war kein Freudentag

Obwohl Burg direkt an der Grenze zum deutsch besetzten Elsass lag, hatte Berneis keine Angst vor einem Einmarsch. Er habe sich sicher gefühlt. Den 8. Mai 1945 erlebt Kurt Berneis im Schul- und Arbeitslager Hasenberg in der Nähe von Bremgarten. Doch die Kapitulation des «Tausendjährigen Reiches» war für ihn kein Grund, euphorisch zu sein. «Es war kein Jubeltag, weil ich nicht wusste, ob meine Eltern umgekommen waren.»

Lange plagten Kurt Berneis Schuldgefühle, weil er seine Familie nicht über seine Fluchtpläne informiert hatte. Erst nach dem Krieg erfuhr Berneis, dass die Eltern noch lebten. Mehrere jüdische Verwandte jedoch hatten die Nazis ermordet. «Wenn Sie in einem Buch von sechs Millionen getöteten Juden lesen, handelt es sich um eine abstrakte Zahl. Wenn Sie jemanden persönlich gekannt haben, ist dies viel aufwühlender».

Nach Wiesbaden, wo er aufgewachsen war, wollte er nicht mehr zurück. Kurt Berneis promovierte in der Schweiz als Chemiker, heiratete, gründete eine Familie und liess sich einbürgern. Bis heute ist er dem Land dankbar, dass es ihm vor über 70 Jahren das Leben gerettet hat.

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