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Nachruf Engagiert bis zuletzt: Schriftsteller Kurt Marti ist tot

Sein Suchen nach neuen Formen und Experimenten war unermüdlich: Nun ist der Schweizer Schriftsteller und Pfarrer Kurt Marti am Samstag 96-jährig in Bern verstorben, wie seine Familie mitteilte.

  • Kurt Marti machte in seiner Arbeit Gegensätze fruchtbar: Er verband die Literatur mit der Theologie, das Nahe mit der weiten Welt, das Konkrete mit dem Abstrakten.
  • Marti war ein politischer Mensch: Er engagierte sich gegen die atomare Aufrüstung und den Vietnam-Krieg und begründete die «Erklärung von Bern» mit.
  • Das umfangreiche Werk von Kurt Marti umfasst Lyrik, Prosa, Essays und theologische Schriften – und zahlreiche Kolumnen, die er 2010 unter dem Titel «Notizen und Details» publizierte.

Ein uraltes philosophisches Problem

Kurt Marti war kein Dialektdichter. Gerade mal zwei seiner zahlreichen Gedichtbände sind in Dialekt verfasst. Allerdings hatte die Sammlung «rosa loui» von 1967 unglaubliche Wirkung entfaltet.

Mit einem Paukenschlag hatte Marti die Dialektlyrik auf den Stand der damals modernsten Poesie gebracht und sie für die grossen Gedanken geöffnet: «zyt isch e löcherbecki» – das war’s: ein uraltes philosophisches Problem, die Zeit, trifft auf die «bärner umgangsschprach».

Hinzu kam allerdings noch Martis geniale Ausführung dieser Grundkonstellation:

Zyt isch nid zahl nid schtrecki

Zyt isch es löcherbecki

Wo scho nach churzem ufenthalt

Dr mönsch z’dürab i d’unzyt fallt.

Porträt von Kurt Marti
Legende: Sein Suchen nach neuen Formen und Experimenten war unermüdlich. Portrait von Kurt Marti von 1996. Keystone

Marti machte Gegensätze fruchtbar

Diese Knappheit! Diese Perfektion! Die Zeit und das «löcherbecki» – Kurt Marti hat als Person und in seinem Werk etwas Bodenständiges, kombiniert mit höchst Intellektuellem. Er verband das Nahe mit der grossen, weiten Welt, das Konkrete mit dem Abstrakten, die Literatur mit der Theologie. Kurt Marti war ein Meister im Fruchtbarmachen von Gegensätzen.

Inspiriert vom Dadaismus

Angeregt wurde der Poet Marti vor allem von der «Konkreten Poesie» Eugen Gomringers und vom Dadaismus. Er hat erkundet, was im einzelnen Wort steckt, und immer wieder das freie Spiel des Unsinns betrieben.

Dass er das Nahe mit dem Fernen zu verbinden wusste, war vermutlich mit ein Grund für seinen Erfolg. Zwölf Auflagen erreichte der Gedichtband «leichenreden». Auch er verband exemplarisch das Intimste, den individuellen Tod, mit dem Sozialen, den Ritualen, Klischees und Geschäften rund um das Sterben. Da ist in ein und demselben Gedicht die Trauer über den Tod eines nahen Angehörigen verbunden mit der Trauer über Krieg, Hunger und Folter in der Welt.

Politisch «christlich links»

Marti war ein politisch denkender und empfindender Mensch. Er konnte gar nicht anders. Seinen politischen Standpunkt definierte er als «christlich links». Gott, das ganz Andere, zeigte sich ihm in der Kraft, die Welt zu ändern und Menschen glücklicher zu machen.

Zwei Männer diskutieren.
Legende: An der Abdankung von Max Frisch 1991: Kurt Marti (links) diskutiert mit Journalist Niklaus Meienberg. Keystone

Kurt Marti war kein 68er. Allerdings war er für die 68er enorm wichtig. Er engagierte sich gegen die atomare Aufrüstung und den Vietnam-Krieg. Er gehört zu den Mitbegründern der «Erklärung von Bern» (heute «Public Eye») und der «Schriftsteller-Gruppe Olten».

Mehr als reaktionäre Militärköpfe

Früh hat er die ökologische Bedrohung wahrgenommen und für sie nicht kitschige literarische Formen gefunden. Und er trat für Kriegsdienstverweigerer ein. In seinem Tagebuch von 1972 betrieb er «Mikropolitik», das heisst er suchte und fand die grossen weltpolitischen Probleme im Kleinen und Lokalen.

Aber dieses Engagement kam aus einer älteren Quelle. Marti gehörte zur Aktivdienstgeneration. Er wehrte sich dagegen, dass das Label «Aktivdienstgeneration» von reaktionären Militärköpfen monopolisiert wurde.

Alles muss anders werden – ganz anders

Facetten eines Autors

Box aufklappen Box zuklappen
Legende: Keystone

Wie alle wachen Geister dieser Generation war Marti geprägt von den Katastrophen des Nationalsozialismus, des Zweiten Weltkrieges, der Judenvernichtung und des Atombombenabwurfs. Er war nach dem Inferno der tiefen Überzeugung, dass alles anders werden müsse, ganz anders. Auch in Theologie und Literatur. Sein Suchen nach neuen Formen und Experimenten war unermüdlich.

Nach 32 Jahren Pfarrei, zuerst im aargauischen Niederlenz, später an der Nydeggkirche in Bern, widmete sich Marti ab 1983 ganz der Schriftstellerei. Sein umfangreiches Werk umfasst Lyrik, Prosa, Essays und theologische Schriften. Romane hat er keine verfasst: Er liebte das Kleine und Knappe in jeder Form. Die grosse Geste war ihm fremd.

Zum Schluss ein Paukenschlag

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts schien sein Werk vollendet. Doch 2010 geschah ein Wunder. Drei Herausgeber publizierten «Notizen und Details»: 252 Kolumnen, die Marti in den Jahren 1964 bis 2007 für die Zeitschrift «Reformatio» geschrieben hatte. Mit einem Schlag war ein neues Hauptwerk des Dichters in der Welt.

Die Themenfülle, Lebendigkeit und Aktualität dieser Kommentare und Analysen ist umwerfend. In ihnen kreuz und quer zu lesen ein Hochgenuss. Auch mit vielen seiner Gedichte wird Kurt Marti im Gedächtnis der Lesenden bleiben – nun, nachdem er am Samstag im Alter von 96 Jahren in Bern verstorben ist.

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