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Gefühle als Geschichten Tim Krohn gelingt die Ouvertüre zu seinem Mammut-Roman

Tim Krohn will einen gigantische Roman schaffen: eine literarische Enzyklopädie von rund tausend menschlichen Gefühlen. Das Werk soll dereinst 15 Bände umfassen. Band eins weckt Appetit auf mehr.

Tausende Gefühle

Von «Aalglätte» bis «Zynismus»: Tim Krohn hat in den vergangenen Jahren eine riesige Liste erstellt von Gefühlslagen, Charakterzügen, Regungen. In der Zwischenzeit sind es um die tausend. Der Autor will zu jedem Begriff eine fiktionale Geschichte schreiben.

Tim Krohn

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Der Glarner Autor ist Vorreiter im Mischen von Dialekt mit literarischem Deutsch, wie etwa in «Vrenelis Gärtli» (2007). Er leitete auch das Welttheater in Einsiedeln und war mehrfach Gast an der Buchmesse in Leipzig.

Sollte Tim Krohn tatsächlich alle rund tausend Begriffe literarisch verarbeiten, ergäbe dies total rund 7500 Seiten, verteilt auf 15 Bände. Und der Autor selbst? Er wäre auf Jahre mit diesem Werk ausgelastet.

Geschichten auf Bestellung

Das Projekt wird per Crowdfunding finanziert: Der Autor hat seine Begriffsliste online publiziert. Leserinnen und Leser wählen per Mausklick eine der Regungen aus. Gegen ein Entgelt von ein paar hundert Franken verfasst Tim Krohn anschliessend um den Begriff eine kurze Erzählung. So lange der Rubel rollt, kann er weiterschreiben.

Die ersten 65 Kurzgeschichten liegen nun unter dem Titel «Herr Brechbühl sucht eine Katze» in Buchform vor. Dieser Band eins der Enzyklopädie packt von der ersten Seite an.

Offenes Setting

Zum einen liegt dies an der für Krohn typischen unaufgeregten und präzisen Art des Erzählens, wie er sie bereits in seinen weit herum beachteten Romanen wie «Quatemberkinder» oder «Vrenelis Gärtli» gezeigt hat.

Link zum Thema

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Ein Porträt von Tim Krohn auf unserem Schweizer-Literatur-Portal «Ansichten».

Zum anderen überzeugt der Roman vor allem durch das einfache und einleuchtende Setting: Er spielt in einem Zürcher Genossenschaftsbau mit insgesamt sechs Wohnungen. Sie bilden die Kulisse für die 65 Geschichten. Und hier sollen dereinst auch die über 900 noch folgenden Erzählungen spielen.

Krohn hat selbst während Jahren in einer Zürcher Genossenschaft gewohnt. Er kann also beim Schreiben auf eigene Erfahrungen zurückgreifen. Zudem bietet dieser Rahmen dem Autor die für die Enzyklopädie unabdingbare Möglichkeit, immer weiter schreiben zu können.

Einmal listig, einmal öde

In Band eins fabuliert Krohn virtuos über Regungen und Empfindungen wie «List», «Milde», «Ödnis», «Kränkung» oder «Umsicht». Je nachdem spielt die entsprechende Geschichte in einer anderen Wohnung des Genossenschaftsbaus.

Einmal in derjenigen des pensionierten Trämlers Hubert Brechbühl, der darunter leidet, nicht mehr gebraucht zu werden. Dann in der Wohnung der alleinerziehenden Mutter Julia Sommer, der das Zerrissensein zwischen Beruf und Familie zu schaffen macht.

Zürcher Genossenschaft Sihlfeld
Legende: Schmelztiegel der Gefühle: Krohns Geschichten spielen einer Zürcher Genossenschaft. Keystone

Das Projekt

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Via Crowdfunding sammelte Krohn Geld für sein aktuelles Mammutprojekt «Menschliche Regungen» – im Tausch gegen persönliche Geschichten. Alle Gefühle, über die er schreiben möchte, sind auf der Homepage des Projekts aufgelistet.

Oder dann beim betagten Ehepaar Wyss, dem die Gebrechen des Alters zusetzen. Oder in der Wohnung von Pit und Petzi, einem jungen Paar, das sich überaus häufig am Geschlechtsverkehr erfreut, und dies lautstark – ganz zum Ärger der Nachbarschaft.

Den Menschen als Ganzes erfassen

So monumental Tim Krohns Vorhaben ist, so enorm ist der Anspruch, den der Autor nach eigener Aussage damit verfolgt: Er möchte den Menschen in seiner Gesamtheit erfassen. Damit ist die Latte hoch gelegt, vermutlich zu hoch.

Zum einen sind die 65 Geschichte voll von Zürcher Lokalkolorit. Zum anderen sind sie auch in vielem eine Darstellung von typisch Schweizerischem: So werden einmal Unstimmigkeiten aufgrund der im Block gemeinsam benützten Waschküche beschrieben.

Ein anderes Mal sind Augen «braun wie Kaffeeschnaps». Oder dann heisst ein bekannter Discounter damals im Jahr 2001, als der Roman spielt, kurz «Schweri». Versteht dies jemand, der in einem ganz anderen kulturellen Umfeld aufwächst – etwa in Rio de Janeiro oder in Johannesburg oder in Phnom Penh? Zweifel sind erlaubt.

Buchhinweis

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Tim Krohn: Herr Brechbühl sucht eine Katze – Menschliche Regungen, Band 1, Galiani, 2017.

Literarische Cliffhanger

Für Menschen, die mit den hiesigen Gegebenheiten vertraut sind, bietet Tim Krohn jedoch Lesegenuss pur. Die einzelnen Erzählungen, die in einem gekonnten Mix aus Schalk und Ernsthaftigkeit gehalten sind, bauen aufeinander auf. Der Autor begleitet die einzelnen Figuren immer nur ein Stück weit, wechselt dann zu einer anderen und greift später den Faden der ersten wieder auf.

Mehr und mehr entwickelt sich beim Lesen eine Sogwirkung, wie dies etwa auch gut gemachte TV-Serien tun: Es bleibt stets so viel offen, dass man unbedingt weiterlesen möchte. Aufhören kommt nicht in Frage. Zu sehr sind einem die Figuren schon nach wenigen Seiten ans Herz gewachsen, als dass man nicht wissen möchte, wie ihre Geschichte weitergeht.

Sendungen:

  • Radio SRF 2 Kultur, Kultur Kompakt, 15.2.17, 06:50 Uhr
  • Radio SRF 1, Buchzeichen, 26.2.17, 14:06 Uhr

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