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Miserable Arbeitsbedingungen in Tankstellenshops
Aus Kassensturz vom 27.06.2017.
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Fehlender Gesamtarbeitsvertrag Miserable Arbeitsbedingungen in Tankstellenshops

Die Migros-Tochter Migrolino betreibt über 300 Filialen. In einzelnen Läden herrschen prekäre Arbeitsbedingungen. Wie Ehemalige und aktuelle Angestellte gegenüber «Kassensturz» berichten. Die Arbeitsbedingungen in dieser Branche sind generell problematisch. Nun ist ein Gesamtarbeitsvertrag in Sicht.

Livia Grubenmann und Sacha Pfander haben während einiger Monate im Migrolino-Shop in Thun Süd und auch im Migrolino Interlaken gearbeitet. Hier wie dort erlebten sie prekäre Arbeitsbedingungen. Ihr Chef und Filialleiter habe die Angestellten schlecht behandelt und nach Strich und Faden ausgebeutet.

Im Frühling kündigten beide und informierten die Migrolino-Geschäftsleitung schriftlich über diverse Missstände. Doch es änderte sich nichts.

«Kassensturz» hat mit mehreren Angestellten und Ex-Angestellten der beiden Migrolino-Shops gesprochen. Alle bestätigen die Vorwürfe. Doch die Angst vor Repressionen ist gross. Nur Pfander und Grubenmann sind bereit, vor der Kamera offen aufzutreten.

Extrem kurzfristige Arbeitspläne und Video-Überwachung

Der Filialleiter verlangte von seinen Angestellten offenbar maximale Flexibilität. Er liess sie unregelmässig arbeiten, mal fünf Tage in der Woche, mal nur zwei, schildert Sacha Pfander. «Die Arbeitspläne kamen zwischen Donnerstag und Sonntag für die darauf folgende Woche. Das war extrem kurzfristig. Ich musste auch schon Termine absagen, zum Beispiel Physiotherapie. Und der Chef hat immer auf den Plänen beharrt.»

Die beiden kamen sich ausserdem vor wie bei Big Brother. Eines Tages habe der Chef überall zusätzliche Überwachungskameras installieren lassen: auf der Verkaufsfläche, im Lagerraum und in den Büroräumlichkeiten, erzählt Livia Grubenmann. «Ich habe das festgestellt, als ich einmal ins Büro kam und gesehen habe, wie sein Handy dort lag. Darauf war eine App, wo die Überwachungskameras aufgelistet waren. Da habe ich mich selber gesehen. Da bin ich schon ein wenig erschrocken, denn vom Computer kennt man das ja, aber auch vom Handy? Da ahnte ich, dass er uns auch von zu Hause aus überwachen konnte.»

Geld für Zechpreller vom Personal berappt

Doch damit nicht genug: Das Personal habe vor und nach der Schicht Gratis-Arbeit leisten und Kassendifferenzen selber bezahlen müssen, erzählt Pfander. «Wenn jemand getankt aber nicht bezahlt hat, musste das Personal bezahlen. Und zusätzlich mussten wir in der Freizeit Nachforschungen anstellen, wem die Autonummer gehört und die Personen auch selber kontaktieren, um das Geld zurückzuholen.» Solange das Geld nicht aufzutreiben war, habe der Chef das Geld der Angestellten einbehalten.

Arbeitsrechts-Experte: Klare Verstösse gegen das Gesetz

Roger Rudolph, Fachanwalt Arbeitsrecht, kritisiert die geschilderten Bedingungen deutlich: «Wenn das so zutrifft, dann sind das eigentlich arbeitsrechtliche Wildwest-Methoden. Da werden offenbar Leute systematisch überwacht, da wird Arbeitszeit nicht bezahlt und es wird automatisch ein Schadenersatz vom Lohn abgezogen. Das sind gravierende Verstösse gegen gesetzliche Bestimmungen.»

Filial-Leiter weist fast alle Vorwürfe zurück

«Kassensturz» konfrontiert den Migrolino-Filialleiter mit den Vorwürfen. Doch vor der Kamera will er keine Stellung nehmen und verweist auf die Migrolino-Regionalleitung. Schriftlich räumt er ein, er habe früher ein einziges Mal einen Angestellten für Kassendifferenzen bezahlen lassen, heute aber nicht mehr. Alle anderen Vorwürfe weist er zurück.

Migrolino: Franchise-System mit autonomen Filialen

Die Migrolino-Shops in Thun und Interlaken gehören zu einem Netz von mehr als 300 Filialen, die im Franchise-System betrieben werden. Franchising heisst: Migrolino stellt den Laden und das Verkaufskonzept, der Filialleiter vor Ort betreibt das Geschäft jedoch auf eigene Rechnung und macht eigene Arbeitsverträge.

Nur: Die Migrolino-Werbung erweckt den Anschein, als gelten in Migrolino-Shops die gleichen Regeln wie bei Migros. So lässt sich ein Filialleiter wie folgt zitieren: «Man reitet natürlich auch auf dieser Welle mit von der Migros und kann sagen, wir sind nicht irgendeine Tankstelle, wir sind ein Migrolino, etwas, das von der Migros aus kommt.»

Auf ihrer Homepage schreibt Migrolino, ihre Franchise-Nehmer müssten gewisse «Standards» einhalten. Was damit gemeint ist, wird aber nicht ausgeführt.

Gesamtarbeitsvertrag für Branche in Sicht

Claudia Stöckli, Zentralsekretärin Detailhandel bei der Gewerkschaft Syna, setzt sich dafür ein, dass ein eigener Gesamtarbeitsvertrag (GAV) für Tankstellenshops bald in Kraft tritt. Das sei ein Meilenstein. «Zum ersten Mal wird es einen Gesamtarbeitsvertrag geben für eine Branche, die sehr lange Öffnungszeiten hat, wo ein Tieflohnniveau herrscht und wo wir immer wieder Verfehlungen feststellen. Dieser Gesamtarbeitsvertrag wird verbindliche Regelungen aufstellen hinsichtlich Lohn, hinsichtlich Arbeitszeiten, aber auch hinsichtlich Krankentaggeldversicherung.»

Mit dem neuen GAV bekämen auch viele Migrolino-Angestellte deutlich bessere Arbeitsbedingungen.

Grafik mit Vergleich Arbeitsbedingungen.
Legende: Ein Vergleich. SRF

Bei Migrolino Thun Süd und Interlaken beispielsweise verdienen alle, egal ob ungelernt oder mit Lehrabschluss, einen Nettolohn von 3752 Franken. Mit dem GAV könnten alle von einem 13. Monatslohn profitieren. Ungelernte kämen auf 4251 Franken, Angestellte mit Lehrabschluss auf 250 Franken mehr.

Bei den beiden Migrolino-Filialen hatten die Angestellten kein zugesichertes Pensum, im neuen GAV dagegen schon. Und: Bei Migrolino Thun Süd und Interlaken mussten Angestellte im Stundenlohn arbeiten. Mit dem GAV wäre ab einem 50-Prozent-Pensum ein fixer Monatslohn garantiert.

Der Gesamtarbeitsvertrag liegt nun beim Seco zur Prüfung. Weil mehrere Einsprachen eingereicht wurden, ist er noch nicht in Kraft. Migros rechnet damit, dass dies bis Ende dieses Jahres der Fall sein dürfte.

Stellungnahme Migrolino

Sowohl Migrolino wie auch Migros wollten zum Fall der beiden kritisierten Migrolino-Filialen vor der Kamera keine Stellung nehmen. In einer schriftlichen Stellungnahme hält Migrolino fest, man habe die Situation vor Ort geprüft und mit den Angestellten gesprochen.

Die Kameras seien aus Sicherheitsgründen installiert worden, weil in Tankstellenshops überdurchschnittlich viel eingebrochen und gestohlen werde. Stossend sei allerdings, dass für die Mitarbeitenden im Lagerraum eine kamerafreie Zone fehle. Migrolino werde in Zukunft darauf achten, dass bei der Planung des Shops Mitarbeitende eine gesonderte Pausenzone zur Verfügung stehe.

Lohnabzug bei Kundenflucht tatsächlich rechtswidrig

Betreffend Lohnabzug bei Kundenflucht habe sich tatsächlich herausgestellt, dass der Geschäftsführer der betreffenden Filialen von den Angestellten verlange, die Kosten zu tragen. In den meisten Fällen sei das Geld im Nachhinein zurück erstattet worden. Diese Praxis widerspreche aber klar jedem arbeitsrechtlichen Grundsatz. Selbstverständlich dulde Migrolino solche Massnahmen nicht und werde sie sofort und in allen Shops unterbinden.

Zum Vorwurf der nicht bezahlten Überstunden seien nach Begutachtung aller Unterlagen und Befragungen einiger Mitarbeiter keine relevanten arbeitsrechtlichen Verstösse festgestellt worden. Die Löhne würden korrekt abgerechnet. Der Franchisepartner achte darauf, dass keine unnötigen Überstunden anfallen würden.

Ausserdem teilt Migrolino mit: «Nachdem sich Mitarbeitende bei der Migrolino beklagt haben, dass die Arbeitspläne teilweise zu kurzfristig verschickt wurden, hat sich der Filialleiter speziell darum bemüht, den Mitarbeitenden den Arbeitsplan so früh wie möglich zukommen zu lassen. Seither ist es zu keinen Klagen mehr gekommen.»

Was ist erlaubt? Und was nicht? Arbeitsrechtsexperte Roger Rudolph beantwortet Fragen:

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Studiogespräch mit Daniel Lampart, Geschäftsführer vom Schweizerischen Gewerkschaftsbund
Aus Kassensturz vom 27.06.2017.
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