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Digital Kommentare: Gepöbel, Selbstdarstellung - und fundierte Meinungen

Die gängige Meinung ist: Je anonymer Kommentare abgegeben werden, desto tiefer das Niveau. Das stimmt nicht: Selbstdarstellung spielt bei Kommentaren eine wichtige Rolle, und das geht nur ohne Anonymität.

Webseiten wie 20 Minuten Online leben zu einem grossen Teil von ihrer Community und den Kommentaren, die daraus hervorgehen. «Egal welche Art von Beitrag, sobald wir die Kommentarfunktion aktivieren, gibt es immer Lesermeinungen dazu», sagt Chefredaktor Hans-Jürgen Voigt. Für ihn ist das kein Problem, sondern ein Glück.

Nicht immer aber sind Kommentare für einen Beitrag befruchtend. Oft arten die Texte in gehässige Pöbeleien aus, die selbst hartgesottene Stammtischbesucher erröten liessen. 20 Minuten Online löscht die meisten dieser angriffigen Kommentare - oder lässt bei besonders heiklen Themen mit absehbaren Reaktionen oft gar keine Kommentare zu. Eine rechtliche Pflicht, Leserkommentare zu veröffentlichen, hat der Verleger nämlich nicht.

Wieso verlieren LeserInnen oft beim Kommentieren ihren Anstand?

Martin Wettstein ist Medienpsychologe am Institut für Medienwissenschaften der Universität Zürich.

Audio
Interview mit Martin Wettstein
09:20 min
abspielen. Laufzeit 9 Minuten 20 Sekunden.

Für ihn hat das Phänomen unanständiger Kommentare vielschichtige Gründe:

Selbstdarstellung

Man nimmt an einer Diskussion teil, um sich selber in ein bestimmtes Licht zu rücken. Damit diese Art der Selbstdarstellung auch klappt, muss man mit vollem Namen auftreten oder zumindest einem Nickname, der dem eigenen Umfeld bekannt ist. Eine Motivation kann sein, die eigenen politischen Ansichten hervorzuheben. Oder sich als besonders gewandter Debattierer darzustellen. Oder eine Meinung zu allem zu haben und damit eine ausgeprägte Bildung zu demonstrieren.

Mimicry

Die Leser lassen sich von Stimmungen und Verhalten der anderen Kommentierer beeinflussen. Je mehr Beiträge in eine bestimmte Richtung gehen um so grösser die Chance, dass weitere Kommentare diese Meinung teilen.

Im Falle von wütender Stimmung häufen sich die Grossbuchstaben und Ausrufezeichen. Im Falle von fröhlicher Stimmung die Emoticons (Smileys). Bereits abgegebene Kommentare wirken also verstärkend und inspirierend auf die nachfolgenden Kommentatoren.

Rhetorische Bildung

Möchte ein Leser auf einen Beitrag reagieren, der seiner eigenen Meinung widerspricht, kann er dies in einem geschliffenen Schreibstil tun und so selbst Beleidigungen oder Gepöbel in anständige Worte hüllen.

Weniger geübte Schreiber laufen Gefahr, dass sie eine Beleidigung sehr direkt formulieren und so unverhohlene Gegenangriffe provozieren, die die Diskussion schnell eskalieren lassen. Die Spirale aus Wut und Pöbelei kann dann meistens nur noch der Community-Manager stoppen, in dem er die Kommentarfunktion deaktiviert.

Hostile Media Effect

Menschen mit hohem Eigeninteresse an einem Thema (z.B. «Hündeler», Liebhaber einer besonderen Sportart oder eines speziellen Hobbies, politisch überdurchschnittlich engagierte Personen) tendieren dazu, sehr schnell (tendenziell negativ) emotional zu reagieren, weil sie Berichterstattung oder Leserkommentare zu «ihrem» Thema meist verzerrt wahrnehmen.

Argumente, die dem eigenen Standpunkt widersprechen, werten sie dabei höher als solche, die ihnen recht geben. Das führt dazu, dass ihnen die Argumente der Gegenseite übervertreten erscheinen und als Angriff auf die eigene Person wahrgenommen werden. Das kann negative Emotionen und harte Reaktionen auslösen.

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