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Kompass Wer Legasthenie hat, wird als dumm angesehen

Valérie Hellmüller (23) studiert an der ETH in Zürich Geomatik und Planung. Seit ihrer Kindheit weiss sie, dass sie Legasthenikerin ist. Lesen tut sie trotzdem gerne. Im Moment ist sie am 5. Band von Game of Thrones. Im Interview erzählt sie, wie sie ihre Legasthenie zeitweise sehr belastet hat.

Welche Wörter schreibst du immer falsch?

Valérie: «Die klassichen Sachen wie «Rhythmus», andere haben auch Mühe damit. Oder «Sphäre» - in einer Prüfung habe ich das Wort auf drei verschiedene Arten geschrieben und gedacht, dass eine davon schon stimmen wird.» (lacht)

Hihi! Ich nehme an, die Rechtschreibekorrektur auf dem Compi ist dein Freund?

Valérie: «Ja, haha, sehr! Was ich auch gerne mache, ist mit der rechten Maustaste auf ein Wort zu klicken, dann kommen Vorschläge. Manchmal erscheint eine rote Linie, aber ich sehe den Unterschied zu vorher gar nicht.»

Hauptsache, die rote Linie ist weg...

Valérie: «Genau.» (grinst)

Heute schreiben wir ja immer weniger von Hand, ist das ein Vorteil für dich?

Valérie: «Definitiv. Auch weil ich Sätze umstellen oder ändern kann. Es sieht auch viel sauberer aus. Vorher musste ich von Hand Dinge reinflicken.»

Es heisst ja oft, dass man nur genug lernen muss, damit es mit der Prüfung klappt. Du weisst, dass das so nicht immer stimmen muss...

Valérie: «Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es Dinge gibt, bei denen Aufwand und Ertrag nicht stimmen. Speziell bei Vokabulartests.

Da konnte ich viel lernen, wirklich viel lernen, aber die Note wurde nicht besser.

Dann habe ich das Lernen für solche Prüfungen auch mal sein lassen. Im Französisch hatte ich Glück, weil meine Mutter aus dem Welschland kommt. So kam ich mit der Mündlichen auf eine genügende Note. Aber ich habe in der ganzen Kantizeit nie eine genügende Franznote geschrieben.»

Du hast Legasthenie, was heisst das konkret?

Valérie: «Ich lese langsamer und ungenauer als andere. Manchmal schaue ich nur das Wort an und erkenne es wieder. Wenn ich ein Buch lese und es Namen drin hat, dann schaue ich teilweise das Wort an und erkenne es. Ich habe zum Beispiel ‹Game of Thrones› gelesen und am Anfang nicht gewusst, wie die Leute heissen, sondern nur das Wort wieder erkannt.»

Das heisst, du siehst eine Ansammlung von Buchstaben, erkennst aber das Wort nicht?

Valérie: «Ja, es sind zum Teil lange oder seltsame Namen.» (Anm. d. Red.: Wie Cersei und Tyrion Lannister, Daenerys Targaryen oder Petyr Baelish).

Hast du alle Game of Thrones-Bücher gelesen?

Valérie: «Am fünften bin ich dran.»

Obwohl du eine Leseschwäche hast, liest du gern?

Valérie: «Eigentlich schon. Ich habe schon immer gerne gelesen, dann wurde es zwischenzeitlich etwas weniger, jetzt habe ich wieder angefangen. Ich habe auf Weihnachen einen E-Book-Reader bekommen, den habe ich immer im Rucksack und lese mehr im Zug.»

Was macht das mit dem Selbtswertgefühl, wenn man in der Primar ist, viel langsamer liest als alle anderen, viel mehr Schreibfehler macht als die anderen?

Valérie: «Ich habe lange das Gefühl gehabt, ich sei dumm.

Klar, man macht Abklärungstests wegen der Legasthenie und dann heisst es, schau hier, du bist intelligent. Aber ich wollte das nicht glauben.

Später in der Sek wurde es besser, dann wechselte ich ins Gym. Aber auch da hatte ich meine Einbrüche. Da bin ich dann gerne zu meiner Mutter, die mir gesagt hat, dass es gut kommt und ich das schaffe.

Auch jetzt: ich musste das erste Jahr an der ETH wiederholen. Das nagt an einem. Ich meine, viele repetieren, das ist keine Schande. Aber es weckt trotzdem wieder Zweifel.»

Wie steht es heute um dein Selbstwertgefühl?

Valérie: «Besser, hehe. In manchen Fächern musste ich Zwischenprüfungen ablegen. Gewisse gingen gar nicht gut, andere liefen sehr gut. Das baut dann wieder auf. Es sind wichtige Fächer, in denen ich gute Noten hatte. Dann kommt man von Anfang an mit einem anderen Gefühl ins Lernen rein, und denkt, dieses Jahr schaffe ich es!»

Was hilft sind positive Erlebnisse, wie etwa gute Noten schreiben?

Valérie: «Ja, Bestätigung hilft. Auf kurze Zeit bringt es schon was, wenn jemand kommt und sagt, es klappe schon. Aber auf längere Zeit helfen gute Noten, wenn man merkt, dass Aufwand und Ertrag stimmen.»

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