Zum Inhalt springen

Header

Video
20 Jahre 9/11 - eine Zeitenwende?
Aus Sternstunde Religion vom 27.08.2021.
abspielen. Laufzeit 1 Minute.
Inhalt

20 Jahre nach 9/11 Wie der 11. September das Leben der Schweizer Muslime veränderte

Seit den Terroranschlägen vor 20 Jahren müssen sich die Schweizer Muslime für ihre Religion rechtfertigen. Der Islam ist ins Zentrum politischer Diskussionen gerückt. Mit welchen Konsequenzen?

Die Terroranschläge des 11. Septembers 2001 waren für die Schweizer Musliminnen und Muslime eine Zäsur. Davor interessierten sich nur wenige für ihre Religion – und wenn ein Interesse vorhanden war, dann eher wohlwollend, erinnert sich Rifa’at Lenzin, Präsidentin von IRAS COTIS, der Interreligiösen Arbeitsgemeinschaft in der Schweiz.

Mit diesem wohlwollenden Interesse war nach den Terroranschlägen Schluss: «Die Diskussion über den Islam war geprägt von Angst», erzählt Rifa’at Lenzin. Stets stand die Frage nach der Gewalt im Islam im Zentrum. Den Musliminnen und Muslimen schlug viel Misstrauen entgegen. «Es gab Menschen, die plötzlich einen Schritt zurücktraten, wenn sie ihre muslimischen Nachbarn trafen.»

Frau mit schwarzem Haar und schwarzem Schal.
Legende: «Viele mussten eine Religion erklären, mit der sie wenig am Hut hatten», sagt Islamwissenschaftlerin Rifa’at Lenzin hinsichtlich der Folgen von 9/11. SRF / Julian Salinas

Muslime unter Rechtfertigungsdruck

Besonders einschneidend war dies für diejenigen, die sich vorher nicht mit ihrer Religion identifiziert haben. «Sie wurden oft auf ihr Muslim-Sein reduziert», sagt Lenzin. «Sie mussten eine Religion erklären, mit der sie wenig am Hut hatten oder die sie als ihre Privatsache sahen.» Die Musliminnen gerieten unter Rechtfertigungsdruck.

Die 26-jährige Xhevahire sagte es in einem Interview für die Fachzeitschrift der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus «Tangram» so: «Es ist nervig, wirklich. Jeder Moslem muss sich rechtfertigen für andere Idioten, wirklich. Ich sage denen Idioten, weil das keine Moslems sind. Ich meine, das passiert am anderen Ende der Welt, und ich hier in der Schweiz muss quasi für die reden, weil die mich in denselben Topf reinwerfen. Das nimmt mich wirklich sehr mit.»

Was hat Terror mit mir als Muslimin zu tun?

Viele Muslime verstanden nicht, was die gewaltsamen Attentate mit ihnen zu tun haben sollten. «Sie fragten sich, weshalb nicht stärker differenziert wurde zwischen fundamentalistischen Terroristen und dem Islam», sagt Rifa’at Lenzin. Denn die Terroranschläge hätten die Schweizer Musliminnen und Muslime genauso erschüttert wie alle anderen.

Auch Islamwissenschaftler Andreas Tunger-Zanetti sieht die Terroranschläge in den USA als Zäsur. Er verweist jedoch darauf, dass es bereits vorher Debatten gegeben habe, ob und wie der Islam mit westlichen Werten vereinbar sei.

Ein Mann mit hellgrüner Jacke, kariertem Hemd, Brille und kurzen Haaren.
Legende: Der Vorwurf, der Islam sei eine gewalttätige Religion, habe besonders die jungen Altersklassen durchgeschüttelt, sagt Andreas Tunger-Zanetti. KEYSTONE / EQ IMAGES / Yoshiko Kusano

Etwa, als Salman Rushdies Buch «Die satanischen Verse» 1989 in Grossbritannien zu wütenden Protesten von Musliminnen und Muslimen führte. Oder zehn Jahre davor, als während der iranischen Revolution ein säkulares Regime gestürzt und ein islamischer Staat eingeführt wurde.

Doch keines der Ereignisse sorgte weltweit derart für Aufsehen wie die Anschläge des 11. Septembers. Erst diese – und die Attentate von Madrid 2004 sowie London 2005 – führten dazu, dass der Islam weltweit mit Terror assoziiert wurde und als Bedrohung für Demokratie und westliche Werte.

Foto einer Frau, Rosen und Kerzen.
Legende: Erinnerungen an die Zuganschläge in der spanischen Hauptstadt Madrid vom März 2004. Keystone / AP Photo / Andres Kudacki

Wie gross ist der Einfluss des Islamismus?

Seither wird die Debatte über die Vereinbarkeit von Islam und Demokratie heftig geführt. Zentral sind dabei Begriffe wie Islamismus und politischer Islam. Radikale, dschihadistische Terrororganisationen wie die Al-Kaida und der Islamische Staat werden als islamistisch bezeichnet, ebenso die Taliban in Afghanistan.

In Deutschland und Österreich tobt die Debatte, wieviel Einfluss Islamistinnen und Islamisten in den Muslimverbänden ausüben. Auch in der Schweiz gibt es Berichte von islamistischen Seelsorgern in Gefängnissen und islamistischen Organisationen, die Moscheevereine oder Verbände finanzieren sollen.

Doch was bedeutet Islamismus genau? Die häufigste Definition lautet: Islamisten wollen eine Gesellschaft schaffen, in der nach islamischen Werten und Regeln gelebt wird. Und zwar nach Regeln und Werten einer sehr konservativen, wortgetreuen Interpretation des Islams, die im Widerspruch zu Frauenrechten oder Rechtsstaat stehen – Stichwort Scharia.

Audio
Salafismus, Islamismus, politischer Islam – wer blickt da durch?
aus Perspektiven vom 04.09.2021. Bild: SRF / Sébastien Thibault
abspielen. Laufzeit 29 Minuten 32 Sekunden.

Ist Islamismus per se demokratiefeindlich?

Diese Definition greife zu kurz, findet Islamwissenschaftler Reinhard Schulze. «Es gibt Frauenrechtlerinnen, die Bezug nehmen auf den Islam, um für Gleichberechtigung zu kämpfen. Oder Klimaaktivisten, die ihr Engagement mit islamischen Werten begründen. Auch sie sind Islamistinnen und Islamisten.» Islamismus muss laut Reinhard Schulze also weder radikal noch antiwestlich sein.

Ein Mann mit grauen Haaren und einer Brille schaut in die Kamera.
Legende: Differenzieren ist wichtig: Islamismus müsse weder radikal noch antiwestlich sein, ist Reinhard Schulze der Ansicht. Franziska Rothenbühler

Schulze plädiert dafür, zu differenzieren und die einzelnen Organisationen und Individuen genau anzuschauen, statt alle in einen «Islamisten-Topf» zu werfen und den Islam per se als demokratiefeindlich darzustellen. Die Diskussion über gesellschaftliche Werte, etwa die Rolle der Frauen, müsse eine liberale Gesellschaft hingegen aushalten, meint der emeritierte Professor für Islamwissenschaften. Eine klare Grenze gelte es da zu ziehen, wo Gewalt gerechtfertigt werde – gegen aussen und gegen die eigenen Mitglieder.

Plötzlich wird über das Kopftuch diskutiert

Die heftig geführte Debatte über den Islamismus zeigt: Seit den Anschlägen des 11. Septembers 2001 ist die Religion zurück auf der politischen Bühne. Zuvor hatte sie in der Schweiz jahrzehntelang als Privatsache gegolten, aus der sich kaum politisches Kapital schlagen liess.

9/11 änderte dies – mit unmittelbaren Konsequenzen für die Schweizer Musliminnen und Muslime. «Es wurde ein Schalter umgelegt», analysiert Rifa’at Lenzin. In der Schweiz wurde plötzlich über das Kopftuch, den Schwimmunterricht für muslimische Mädchen, die Handschlagaffäre von Therwil und über Minarette diskutiert.

Audio
Minarett-Verbot in der Schweiz – was hat sich seither getan?
aus Kontext vom 25.11.2019. Bild: Keystone / Steffen Schmidt
abspielen. Laufzeit 54 Minuten 2 Sekunden.

Muslimische Gemeinschaften professionalisieren sich

Die politischen Diskussionen rund um den Islam in der Schweiz hatten zwei Folgen: Viele Musliminnen und Muslime hätten begonnen, sich intensiver mit ihrer Religion auseinanderzusetzen, besonders die jungen. Das zeige seine Forschung, sagt Islamwissenschaftler Andreas Tunger-Zanetti. Der Vorwurf, der Islam sei eine gewalttätige Religion, habe besonders diese Altersklassen durchgeschüttelt.

Junge Männer sitzen an einem Tisch und unterhalten sich miteinander.
Legende: Besonders junge Musliminnen und Muslime haben begonnen, sich intensiver mit ihrer Religion auseinanderzusetzen: Etwa Adem Kujovic (Bild), der in diversen Organisationen tätig ist, unter anderem im Vorstand der Moscheegemeinde in Bürglen (TG). SRF / Julian Salinas

Zudem begannen die muslimischen Gemeinschaften, sich besser zu organisieren. Unter anderem, um das Feld nicht dem salafistisch orientierten Islamischen Zentralrat (IZRS) zu überlassen. Dieser war im Zuge der Minarett-Initiative entstanden und vertrat ultrakonservative islamische Ansichten.

Muslimische Dachverbände hatte es bereits zuvor gegeben, doch nun stellten sie sich professioneller auf. Es begann ein neuer Dialog: Kantonale Behörden, Gemeinden und Schulen arbeiteten vermehrt mit Musliminnen zusammen, etwa in der Präventionsarbeit.

Dies führte zu Projekten wie der muslimischen Seelsorge oder jüngst einem Weiterbildungslehrgang für Imame im Kanton Zürich. Im Kanton Waadt bemühen sich die Muslime um Anerkennung: Der Entwurf des entsprechenden Gesetzes steht und definiert klar Rechte und Pflichten der muslimischen Gemeinschaft. Es entstanden zivilgesellschaftliche Vereine wie die «Offene Moschee Schweiz» oder «Al Rahman», die sich unter anderem für Imaminnen einsetzen. Oder das Westschweizer Kollektiv «Les Foulards Violets», das für die Selbstbestimmungen von Frauen mit Kopftuch kämpft.

Diskussion um Islam ist noch nicht abgeschlossen

Dass damit die Diskussion um die Rolle des Islams in der Schweiz nicht abgeschlossen ist, zeigten jüngst die Burka-Initiative, ein Positionspapier der SVP zum Thema politischer Islam und ein Vorstoss aus der Sicherheitspolitischen Kommission des Ständerates. Dieser fordert, ein Register für Imame, die in Schweizer Moscheen predigen, zu erstellen und die Auslandsfinanzierung der Moscheen genauer anzuschauen.

Rifa’at Lenzin, die sich fast ihr ganzes Leben lang für den interreligiösen Dialog eingesetzt hat, wünscht sich dagegen, dass weniger auf den Islam fokussiert wird. Sie würde gerne die Frage diskutieren, welche Rolle Religion generell im öffentlichen Raum spielen soll.

Radio SRF 2 Kultur, Perspektiven, 5.9.2021, 8:30 Uhr

Meistgelesene Artikel