Drive
Dass uns Barockmusik heute so fasziniert, hängt stark mit ihrem Drive zusammen. Barockmusik wird heute sehr viel schneller gespielt als noch vor 50 Jahren. Das liegt an der historisierenden Aufführungspraxis mit den leichter gebauten alten Instrumenten, den leichteren Bögen und den Darmsaiten. Sie ermöglichen, dass die Musik mit Tempo und Schwung daherfährt. Trotz Zugluft fühlen wir uns aufgehoben und wissen in etwa, was uns erwartet. Eine klare äussere Form, kleine wiederholte Motive und ein vorwärtstreibender Bass: Dies sind die Elemente, die sich in unseren Lebensrhythmus einfügen und unseren Geist in Bewegung halten.
Rhythmus
Drehen, Schreiten, Trippeln, Knicksen – der barocke Rhythmus hat seinen Ursprung im Tanz. Höfische Tanzrhythmen finden sich fast überall in der Barockmusik, ob Passepied, Menuett oder Air, ob Contredanse oder Gavotte. Entwickelt haben sich diese Tänze am Hof von Versailles, wo alle, vom König über die Höflinge bis zu den Mätressen, damit Haltung und Anmut beweisen. Und wer einen falschen Schritt machte, blamierte sich. «Quel faux pas!» Auch wenn heute niemand mehr dazu tanzt, ist da jederzeit ein innerer Puls spürbar, ein lüpfiges Auf und Ab und ein Unterwegssein im Kreis.
Bass
Der barocke Bass ist eine Revolution und läutet mit einem gewaltigen Bruch ein neues musikalisches Zeitalter ein. Warum? Weil sich das Individuum aus dem Kollektiv emanzipiert. Während in der Renaissance gleichberechtigte Stimmen ihren Weg gemeinsam gehen und niemand aus dem Kollektiv heraussticht, beansprucht jetzt eine einzelne Stimme Raum und Aufmerksamkeit für sich allein. Dafür braucht sie den stützenden Bass von unten, der immer da ist und zur tragenden Konstruktion wird: Basso Continuo oder Generalbass. Die Stimme oben – eine Gesangsstimme etwa, eine Geige – kann sich darauf frei entfalten und zu virtuosen Höhenflügen aufbrechen. Die neue vertikale Ordnung wird zum nachhaltigen Erfolgsmodell und bleibt es bis heute: Sei es im Jazz mit der Rhythm Section und den Soloinstrumenten, sei es im Rock und Pop mit der Band, die den Leadsänger zu Höchstleistungen anspornt.
Schmelz
Wenn zwei sich finden, kann Barockmusik sehr süss sein. Anders süss als zum Beispiel bei Verdi, wo Männlein und Weiblein klar erkennbar sind: er als Tenor, sie als Sopran. Im Barock singt er Sopran und sie auch. Zwei Stimmen finden sich auf derselben Tonhöhe, egal ob zwei Kastraten, zwei Frauenstimmen oder gemischt. Hauptsache die Stimmen verschmelzen zu einer einzigen und landen schliesslich auf dem gleichen Ton – das höchste der barocken Liebesgefühle. Damit einher geht ein Verwirrspiel der Geschlechter, das im Barock seine hohe Zeit feiert und heute in den vielen hohen Männerstimmen der Popkultur ihren Widerhall findet.
Ostinato
Sturheit hat einen schlechten Ruf. Nicht so in der Barockmusik, die kennt oft nur einen Weg: Der Bass wiederholt die immer gleichen Töne im immer gleichen Rhythmus, stur, eigensinnig und hartnäckig – das sind Synonyme für das barocke Ostinato. Dafür kriegen die Melodie-Instrumente oben Auslauf und fantasieren sich hoch in virtuose und nicht ganz uneitle Selbstdarstellungen, zum Beispiel in hypnotischen Tänzen wie der Ciaccona, Passacaglia oder Follia. Da die meisten Menschen Wiederholungen lieben, bleibt uns das Ostinato bis heute erhalten, im Jazz und Rock als Riff und in der elektronischen Musik als Loop. Das Schöne daran: Wir wissen etwa was kommt und werden dennoch überrascht.
Pomp
Ob Krönungsmusik für einen König, ob Festmusik für einen Erzbischof – der grosse Auftritt mit Pauken, Hörnern und Trompeten ist ein barockes Must. Für demokratisch geschulte Menschen von heute nicht einfach zu goutieren, bedeutet doch dieser musikalische Pomp nichts anderes als die Machtdemonstration des Absolutismus: Der Herrscher zeigt, was er hat und lässt seine Muskeln spielen. Immerhin werden Musiker, die Militärinstrumente spielen, anständig bezahlt – ganz im Gegensatz zu den anderen Kollegen, die auf der untersten Stufe der Lohnskala nicht besser verdienen als die niedrigsten Kammerdiener, die Nachttopfleerer. Kleiner Trost: Die vielen schönen Concerti grossi, in denen Trompeten und Hörner in spielerischen Dialog mit Geigen, Flöten oder Oboen treten, lassen die ursprünglichen Rollen im hierarchischen Gefüge schnell vergessen.
Improvisation
Wundern Sie sich manchmal, wenn klassische Musiker mit den Augen an ihren Noten kleben? Barocke Musiker würden sich mit Ihnen wundern. Denn das Wohlorganisierte der späteren klassischen Musik, in der jeder Ton aufgeschrieben ist, kennen Barockmusiker nicht. Sie haben oft nur eine Basslinie mit ein paar Ziffern vor sich, allenfalls ein paar Akkorde – den Rest erfinden sie in barocker Improvisation, sie fantasieren und verzieren was das Zeug hält. Ob Präludium, Toccata, Fuge oder Capriccio – am Meisten sind Organisten und Cembalisten gefordert. Händel muss ein genialer Improvisator gewesen sein, Bachs berühmte Präludien und Fugen basieren garantiert auf eigenen Improvisationen, und auch die heutigen barocken Tastenlöwen müssen das können. Jeder Interpret ein halber Komponist, die Fantasie ist an der Macht.
Klagen
Himmel und Hölle, Schwarz und Weiss – Barock ist Kontrast. Auch die Musik kennt neben ihrer Leichtigkeit die Kehrseite der Medaille und kann jammern und klagen, dass sich die Balken biegen. Das Lamento feiert im Barock seine hohe Zeit. Verlassene Frauen wollen nur noch sterben, Ausgestossene können nur noch stottern, liebeskranke Herrscher werden weich wie Butter. Oft schreitet dazu eine Bassstimme immer vom gleichen Ton aus langsam abwärts und verstärkt das Gefühl, sich ganz dem Dunklen zu ergeben. Der Schmerz wird bis zum Exzess ausgekostet, Virtuosität und Tempo haben keine Chance gegen diese Trauerstücke, die langsam ihrem unerbittlichen Schicksal entgegengehen – und wir leiden gerne mit.
Sequenz
Sequenz klingt irgendwie trocken und grau. Sie ist es aber nicht, sie ist im Gegenteil die Rettung vieler hart arbeitender Barockmusiker. Ein genialer Kunstgriff, der erlaubt, mit einer einzigen Idee viele Minuten zu füllen. Rezept: Der Komponist nimmt ein kleines Motiv oder eine kurze Tonfolge und geht damit die Tonhöhentreppe runter oder rauf – eine Stufe tiefer und noch eine und noch eine. Oder eine Stufe höher und noch eine und noch eine. Oder beides. Das treibt die Musik schwungvoll voran und verschwendet keine Kreativität. Der barocke Meister der Sequenz ist Vivaldi. Als Musiklehrer in Venedig schreibt er in einer Art vorindustrieller Musikproduktion ganze 700 Konzerte, 700 Mal das gleiche, meint sein Komponistenkollege Strawinsky später spitzzüngig. Das ist natürlich Verleumdung, aber vielleicht hätten tatsächlich 500 auch gereicht.
Verrücktheit
Die spinnen, die Barocken. Barock trägt das Schiefe im Wortsinn, glatt passt nicht zur Epoche. So werden wir zum Publikum in einem Zirkus der Extreme. Auf der Opernbühne herrscht Geschlechterwirrwarr, der oberste Gott verführt in Frauenkleidern einen hässlichen Frosch und singt dazu im Falsett, der Wahnsinn tritt höchstpersönlich auf und schmettert eine unsingbare Koloraturarie. Im Konzert verstimmen die Geiger ihre Saiten und die Imitationslust bricht aus: Kuckucke kuckucken, Hühner gackern, Engelflügel schwirren, Schlachten werden geschlagen, eine Blasensteinoperation vertont und am Schluss entlädt sich über allem ein heftiges Gewitter. Barockmusik feiert sich selbst, sprengt Grenzen und schreckt auch vor Lächerlichkeit nicht zurück. Schief eben und wunderbar masslos.
Barock – mon amour Mit Pomp, Drive und Schmelz: Zehn Geheimnisse der Barockmusik
Gefühle im Korsett, so lässt sich Barockmusik umschreiben. Der Barock war auch für die Musik eine äusserst produktive Epoche. Pompös, tanzbar und bis heute beliebt. Wir lüften zehn Geheimnisse der Barockmusik.