Vielleicht hat er ja am Ende doch recht, der Autohändler: Nirgends sitzt sich's so gut wie im eigenen Wagen. «Ja, ich säge eifach de Lüüt, verzwiifled nöd bim Stau; eso schön, wiener in euem Auto sitzed, woner sälber zahlt händ, da chönder niened suscht sitze.»
Wohnungen mit Blick auf die Autobahn
Mike Müller, der Volksschauspieler, sein Bruder, der Kulturjournalist Tobi Müller, und Regisseur Rafael Sanchez haben recherchiert. Sie haben Experteninterviews aufgenommen, mit Praktikern auf der Strasse und Theoretikern am Schreibtisch, vom Verkehrshistoriker bis zum Postwachstumsforscher. Sie haben wunderbare Archivaufnahmen aufgestöbert. Sie sind die ganze Strecke der A1 selbst abgefahren, sie haben Bilder und Geschichten eingesammelt – die sie nun in 90 überaus kurzweilige Bühnenminuten montieren.
Der Abend folgt einer lockeren Dramaturgie von St. Margrethen bis Genf und vom Ende der 1950er-Jahre, als die Schweiz ins «Zeitalter des rationellen Strassenverkehrs» eintrat, bis zur Gegenwart; oder vielmehr bis zu einer nahen Zukunft der vielen offenen Verkehrsfragen. Der Perspektivenwechsel ist eklatant: Vor 50 Jahren wurden offenbar tatsächlich noch «Wohnungen mit Blick auf die Autobahn» als Luxus angepriesen.
Beiträge zum Thema
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Schlaglichter auf ein helvetische Phänomen
Es sind solche Trouvaillen und Kuriosa, die den Abend reich machen – neben der geschickten Verquickung der Ebenen und Metaebenen. Wenn sich eine Grundhaltung vermittelt, dann ist es sanft ironische Ambivalenz. Der Abend frisst sich durch die Schweizer Gemütslandschaft wie der rote Autobahn-Faden im Hintergrund durch die Schweizer Landkarte. Mit sanftem wachstumskritischen Grundrauschen steuert er von der Landesgrenze im Osten zur Landesgrenze im Westen.
Das hat Witz, es ist effektvoll inszeniert und komödiantisch gespielt. Die drei Darsteller – die Komödien-Urgesteine Mike Müller, Michael Neuenschwander und Markus Scheumann – spielen mit Rollen und Figuren, übernehmen elegant und parodistisch geschmeidig die Positionen der Interviewten. «A1» ist sehr unterhaltsam, die Ultima Ratio sollte man von dem Abend allerdings nicht erwarten – dafür ein paar kräftige Schlaglichter auf ein helvetisches Phänomen.