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70. Filmfestival Cannes Der Cannes-Gewinner schluchzt und schreit, wenn er verliert

Seine Filme sind eine Mischung aus Soziologie-Vorlesung, Komödie und entsetzlich peinlichen Momenten: Ruben Östlund recherchiert dafür im Netz.

Er versucht ein Lachen zu erzwingen, aber die Nervosität lässt das nicht zu. Ruben Östlund zappelt mit seinem Produzenten vor dem Laptop. Die Oscarnominationen 2015 werden gerade bekanntgegeben, die beiden filmen sich beim Zuschauen.

Seinen Namen hofft Östlund in der Kategorie «Bester fremdsprachiger Film» zu hören. Denn sein Drama «Turist» ging für Schweden ins Rennen um den Oscar. In der fünften Minute des Youtube-Clips dann die grosse Ernüchterung: Sein Film ist nicht unter den Nominierten. Östlund verschwindet aus dem Bild, schluchzt und schreit. Der Produzent versucht ihn zu beruhigen und sagt: «Nein, zieh dich nicht aus.» – Wie bitte?

Östlund ist am Boden

Es ist ein amüsant irritierender Moment. Die brutale Enttäuschung ist nur hörbar. Ein verzweifeltes, männliches Schluchzen paart sich mit dem seltsamen Kommentar des Produzenten. Östlund ist am Boden.

Aber nur scheinbar. Das Video ist gestellt. «Swedish director freaks out when he misses out on Oscar nomination» heisst es zwar, aber ein Kommentar entlarvt den Clip: «Ausgezeichnete Nutzung des Off-Screen und Sound. Diesen Ruben Östlund sollte man lieber im Auge behalten.» Genau das hat die Filmbranche getan. Östlund hat soeben in Cannes die Goldene Palme für den besten Film gewonnen.

Innovativ und am Individuum interessiert

Das Youtube-Video ist ein kleiner Beweis für Östlunds grosses Fingerspitzengefühl. Das hat der 43-Jährige bereits unter Beweis gestellt. Er gilt als einer der innovativsten Regisseure in Schweden. Im Filmstudium prägten ihn neorealistische Filme wie «Fahrraddiebe» von Vittorio De Sica. Seit jeher beschäftigt er sich mit der Dynamik des menschlichen Verhaltens und Versagens.

In seinem Episodenfilm «Involuntary» (2008) etwa verstrickt er fünf Geschichten und seziert das verzwickte Innenleben der Figuren, indem er sie vor moralische Dilemmas stellt.

Im Sozialdrama «Play» (2011) geht es Östlund um Vorurteile. Eine Gruppe schwarzer Jungs raubt weisse Jungs aus. Für sie ist es ein Spiel. Für Östlund eine Gelegenheit, den Zuschauer zu involvieren. Er wird nämlich zum stillen Beobachter und strengen Schiedsrichter zugleich. Der Film löste in Schweden riesige Diskussionen um Rassismus aus und blieb ein kleines Meisterwerk.

«Es gibt genug Drama im Leben»

Gelobt wurde Östlund stets für «seinen scharfen Blick» und seine «bemerkenswerte Präzision», die er auch in seinen folgenden Filmen unter Beweis stellte. Dabei blieben seine Figuren stets einfache Leute, die sich durch gesellschaftlichen Druck in komplizierten Situationen wiederfanden. Grosse Helden und Action interessieren Östlund nicht. «Es gibt genug Drama im Leben», sagt er, «man muss es nur hervorheben und sichtbar machen.»

In seinem Skiferien-Drama «Turist» tut er genau das und erhält 2014 den grossen Jurypreis in Cannes. Im Film wird eine vierköpfige Familie beim Mittagessen von einer Lawine überrascht. Viel überraschender sind aber die Reaktionen der Figuren auf die bedrohliche Situation.

So verlagert Östlund den Fokus wie gewohnt von den Schneemassen auf das Rollenverständnis von Mann und Frau, das – wenn es ums Überleben geht – zu viel Dramatischerem führt.

Youtube als Schatzkiste des Alltags

Recherchiert hat der geschiedene Östlund dafür nicht nur im eigenen Leben, sondern auch auf Youtube. In einem Interview erzählt er von Amateurvideos, auf denen er Gruppendynamiken beobachtete und sich so zur Lawinenszene inspirieren liess.

Und ein auf Youtube lächerlich weinender Mann brachte ihn dazu, den Familienvater in «Turist» einen Heulkrampf vortäuschen zu lassen. Und auch selber das oben erwähnte Fake-Video zu drehen.

Filmemacher und Youtube-Fanatiker

Sucht man diese unschönen aber spektakulären Alltagsszenen, ist man auf Youtube genau richtig. Östlund schöpft hier aus dem Vollen, bedient sich entsetzlich peinlicher Momente der Internet-User und übersetzt diese in sozialkritische, cineastische Kunstwerke.

Für sein satirisches Drama «The Square» über einen Kunstkurator gabs nun die höchste Auszeichnung des renommiertesten Festivals. Ob ein fingiertes, selbstironisches, rotzendes Freudenvideo auf Youtube folgt?

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