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Film & Serien «Der Fall»: Kurt Frühs Abgesang auf das Dorf in der Stadt

Kurt Früh zeichnet Zürich lange als beinah dörfliches Idyll. Später in seinem Schaffen erhält das saubere Bild Kratzer und sein letzter Film «Der Fall» ist dann bereits ein melancholischer Abgesang auf eine Stadt im Wandel. Ein filmischer Blick auf das Bild der Stadt bei Kurt Früh.

Kurt Früh und Zürich. In seinem letzten Kinofilm hadert Kurt Früh mit seiner Heimatstadt. Als Schauplatz für den melancholischen Film noir «Der Fall» von 1972 wählt Kurt Früh Oerlikon. Ein Zürcher Quartier, in dem sich damals bereits Veränderungen abzeichnen, die heute das Stadtbild prägen.

Der Blick des Kleinstadtidyllikers Kurt Früh auf diese Veränderungen ist kritisch. Oerlikon ist damals noch ein von Industrie geprägtes Stadtquartier. Früh inszeniert Oerlikon als vernebelte, gesichtslose, ja fast unheimliche Zone. Die vertraute Stadt ist zur Geisterstadt geworden. Ähnlich pessimistisch hat das zuvor in der Schweiz kaum jemand in einem Film gezeigt.

Niedergang der kleinräumigen Stadt

Der Kapitalismus-kritische Früh idealisiert in früheren Filmen wie «Bäckerei Zürrer» oder «Oberstadtgass» die Stadt Zürich gerne als Ansammlung von eigensinnigen Kleinbürger- und Proleten-Quartieren. Aber in «Der Fall» richtet er seinen Fokus auf die Auswirkungen einer unaufhaltsamen Stadtentwicklung, die - so seine Botschaft - seinem Zürich den dörflichen Charakter rauben wird.

Philip Ursprung

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Philip Ursprung, geb. 1963 in Baltimore, ist Professor für Kunst- und Architekturgeschichte an der ETH Zürich.

Die befürchteten Folgen: Entsolidarisierung, Vereinzelung, Entfremdung. Wie der Protagonist des Films, der ins Alter gekommene Privatdetektiv Grendelmann (Walo Lüönd), hat Früh 1972 die positiven Bezugspunkte in der Stadt verloren und wandert, wie aus der Geschichte gefallen, durch die Trümmer seiner Vergangenheit. Unklar ist, wohin die Reise geht. Aber Kurt Früh scheint zu ahnen, dass die einsetzende Deindustrialisierung das Gesicht seiner Stadt radikal verändern wird.

Diese Entwicklung ist in der Schweiz untypisch verlaufen, sagt der ETH-Architekturhistoriker Philip Ursprung: «Während dieser Prozess vielerorts in der industrialisierten Welt zu sozialen Verwerfungen führte, verlief der Umbau zur Dienstleistungs- und Informationsindustrie in der Schweiz fast unmerklich. Das hat Gründe: Die Arbeitslosigkeit im Industrie- und Bausektor der 1970er-Jahre wurde hierzulande einfach ausgelagert – Stichwort ‚Saisonniers‘.», erläutert. Die Saisonniers wurden in ihre Herkunftsländer zurückspediert. Und Früh, dem das multiethnische Zürcher Quartierleben am Herzen lag, wird auch dies als Verlust empfunden haben.

Der Fall aus dem gewohnten Rahmen

Man begann sich damals von Traditionen, vom Kleinstadt-Mief und von engen sozialen Bindungen in Vereinen und Familie zu befreien. Doch an ihre Stelle treten, wie in «Der Fall» gut zu sehen ist, keine neuen Verbindlichkeiten: Der Fall aus dem gewohnten Rahmen macht Frühs Protagonisten zu einsamen Heimatlosen.

Das Publikum war 1972 für eine solche filmische Depression nicht empfänglich. Man bestrafte Früh für seine Abkehr vom in den 1950er- und 1960er-Jahren hingebungsvoll gepflegten Kleinstadtidyll mit Liebesentzug. «Der Fall» floppte. Vermutlich, so Ursprung, «weil das Schweizer Publikum es noch nie geschätzt hat, wenn man ihm einen Spiegel vorhält.»

Ursprung misst dem Film denn auch gewisse prophetische Qualitäten zu. Er zeige, wie die Stadt sich nach Jahren der Fortschrittseuphorie allmählich jenem Zustand nähert, der von Theoretikern als «ewige Gegenwart» bezeichnet werde. Eine ewige Gegenwart, in der die Geschichte wie angehalten erscheine und in der kaum mehr räumliche und zeitliche Markierungen zu erkennen seien.

Der Vergleich zwischen Standbildern aus Frühs Filmen mit heutigen Fotografien derselben Schauplätze macht denn auch deutlich: Hier hat sich kaum Entscheidendes verändert. Als wäre die Stadt zeitlos geworden. Früh macht mit seinen Filmen damals Veränderungen sichtbar, die wir heute gar nicht mehr nachvollziehen könnten, erläutert Ursprung.

Vom Quartierleben zum Shopping Center

Der Protagonist Grendelmann bewegt sich in «Der Fall» in «gemeinen» oder «kommunen» Räumen – in Treppenhäusern, in Garagen, im Entree zur Kneipe aber auch im Interieur des Eisenbahnwagens oder des Taxis. Orte, die die Stadtentwicklung prägen und von ihren Bewohnern unsystematisch nach eigenen Regeln genutzt und geformt werden.

Diese Erlebniswelt des Kleinbürgers sieht Früh gefährdet. Zu Recht, wie sich zeigt: Die Zukunft gehört den konzipierten Begegnungszonen wie beispielsweise Einkaufspassagen, die zum Zwecke der möglichst schnellen und reibungslosen Abwicklung von Verkehr und Austausch gestaltet werden. Die Stadt wird zum optimierten Shopping Center.

Bürogemeinschaft statt Amtsstube

«Der Fall» zeigt auch, wie sich analog zu den Räumen die Arbeitswelt verändert. Ursprung dazu: «Das Bild der Arbeit beginnt in Frühs Film »Der Fall« vor unseren Augen zu verschwimmen. Beispielsweise in der Bürogemeinschaft von Privatdetektiv Grendelmann, in der die Arbeit und das Private miteinander verschmelzen». Für uns, die wir heute als Ich-AGs funktionieren und Arbeit im Homeoffice als Selbstverständlichkeit erachten, mag das kaum mehr aufsehenerregend erscheinen. Grendelmann aber, der bei der «richtigen» Polizei rausgeschmissen wird, empfindet die private Bürogemeinschaft als Abstieg.

Die Böse Ironie dieser Geschichte: Als Grendelmann zum Schluss dann doch noch den Ausbruch wagt, werden ihm die Grenzen der Selbstverwirklichung vor Augen geführt. Die blutjunge Prostituierte, mit der zusammen er sich «neu erfinden» will, nimmt ihn aus und gibt ihm den Laufpass. Sein Befreiungsschlag endet mit seinem Fall: Grendelmann stirbt den sozialen Tod.

Ab nach Schwamendingen?

Wo könnte man heute ein Remake von Kurt Frühs nostalgischem «Oberstadtgass» drehen? Wo findet sich ein Zürcher Quartier wie damals, mit dörflicher Struktur und kleinbürgerlichem Gemeinsinn? Auf diese Fragen meint Ursprung: «Vermutlich wäre das heute nur noch Schwamendingen.»

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