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«Diane»: Ein Film wie ein Gedicht
Aus Kultur Extras vom 04.08.2018.
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71. Locarno Festival Der andere amerikanische Traum

Grossartig und eindringlich: Der Film «Diane» erzählt von Solidarität und Verzweiflung in der Mitte der USA.

Mary Kay Place ist eine jener Schauspielerinnen, die wir alle sofort wieder erkennen, ohne sie eindeutig einer Rolle zuordnen zu können. In unzähligen Serien und gegen hundert Spielfilmen hat sie prägnante, sogenannte Charakterrollen gespielt.

Nun spielt Mary Kay Place die Hauptfigur in «Diane», dem Film des einstigen Filmkritikers, Dokumentarfilmers und Direktor des New York Film Festivals, Kent Jones.

Frisch ab Leinwand

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SRF-Filmkritiker Michael Sennhauser schaut sich am Filmfestival Locarno Filme an und schreibt über seine ersten unmittelbaren Eindrücke.

Mehr Filmbesprechungen unter sennhausersfilmblog.ch.

Aufopferung bis zur Verzweiflung

Diane ist eine jener Frauen, die den grundanständigen Kern der US-amerikanischen Gesellschaft verkörpern. Eine Mittelstandsfrau in Massachusetts, die sich um alle anderen mehr kümmert als um sich selber.

Sie besucht Bekannte im Spital, bringt einer Nachbarin Essen vorbei, arbeitet in der Suppenküche für Bedürftige und kümmert sich immer wieder um ihren erwachsenen, drogensüchtigen Sohn – bis zur Verzweiflung.

Diane lebt allein. Man geht davon aus, dass sie verwitwet ist. Später erfahren wir aber auch von einer Affäre mit dem Freund der besten Freundin in den 90er-Jahren, von Schuldgefühlen und Lebenslust, von Freundschaften und Verbitterungen, die schon Jahrzehnte andauern.

«Diane» ist ein ungemein kunstvoll gebauter, auf den ersten Blick einfach und direkt erzählender Film, der Schicht für Schicht vom Leben seiner Protagonistin erahnen lässt, ohne sie abzutragen.

Eine Frau mit traurigem Gesicht sitzt in Winterkleidung im Auto.
Legende: Verbitterung, die schon Jahrzehnte anhält: Mary Kay Place als «Diane». Locarno Festival

Trügerische Beiläufigkeit

Zuerst sind wir beeindruckt von der Unermüdlichkeit nicht nur der Hauptfigur, sondern auch ihrer Freundinnen. Wie diese Frauen die eigenen Lebenswidrigkeiten und jene der anderen wegstecken, überarbeiten, umpflügen und mit zupackender Selbstverständlichkeit auffangen, wird so täuschend beiläufig erzählt, dass einen die Ehrfurcht packt.

Auch in Sachen Kamera-Arbeit und Schnitt tut der Film so, als hätte sich das alles einfach so ergeben.

Diane sucht nach Vergebung

Dazu kommt bissiger Humor: hochpräzise, giftig-gutmütige Verbalpfeile. Ein Austausch am Spitalbett eskaliert, wie er offenbar schon seit vielen Jahren immer wieder eskaliert. Solche Momente erlebt man einmal mit und weiss sofort, dass sie eingespielt sind – erprobt, nicht abzustreifen.

Im Verlauf des Films wird Diane einsamer und verlorener. Ihre echte oder vermeintliche Schuld drängt sich vor. Sie muss Vergebung für sich selber finden.

Die beiden Personen stehen vor einer Wand mit dem Logo des Festivals.
Legende: Schauspielerin Mary Kay Place und Regisseur Kent Jones in Locarno. Locarno Festival/Massimo Pedrazzini

Befreiende Grobheit

Auf dem Weg dahin inszeniert Kent Jones ein paar Kabinett-Stücke, Ensembleszenen, die sich gewaschen haben. Einen Besuchsabend in der grossen Küche eines Hauses etwa: Rund zehn der älteren Freundinnen und Freunde tauschen Erinnerungen, Informationen und Bissigkeiten aus, während die jüngere Generation sich immer wieder an den Tisch drängt, um sich ein Cookie zu schnappen.

Oder die Einladung Dianes zu ihrem frisch drogenentwöhnten Sohn Brian, seiner bigotten Frau und einer Freundin, die alles daransetzen, sie zu ihrer Errettungskirche zu bekehren – bis Diane grob ausfällig wird auf eine Art, die auf uns im Publikum unendlich viel befreiender wirkt als auf sie.

Heimlich grossartig

Kent Jones ist ein stiller, unspektakulärer, heimlich grossartiger und eindringlicher Film gelungen. «Diane» handelt vom Herzen der amerikanischen Gesellschaft, von jener Kombination aus schlechtem Gewissen und Solidarität, Gemeinschaftssinn und Verzweiflung.

Menschen wie Diane sind solidarisch, ohne auf politische Überzeugung oder den eigenen Vorteil zu achten. Sie sind es, die bis heute jenen anderen, echteren und zuweilen schmerzhaft puritanischen amerikanischen Traum am Leben halten.

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