Die vielen Jurys des Filmfestival von Locarno haben ihr Füllhorn 2015 ausgeschüttet – und wie immer gab es ein paar Überraschungen. So hat die Hauptjury den grossen Favoriten vieler Kritiker, den grossartig verstörenden Schwarz-weiss-Film «Tikkun» von Avishai Sivan aus Israel, zwar mit dem zweitwichtigsten, dem Spezialpreis der Jury gewürdigt (zur Filmbesprechung von «Tikkun»).
Den Goldenen Leoparden jedoch vergab die Hauptjury an den Südkoreaner Hong Sang-soo und seinen feinfühlig heiteren Doppelfilm «Right Now, Wrong Then» (zur Filmbesprechung).
Zwei höchst unterschiedliche Filme
Die beiden Filme könnten nicht unterschiedlicher sein. Mit «Tikkun» erzählt Sivan radikal, verstörend und bildgewaltig vom tödlichen Versuch eines jüdisch-orthodoxen Religionsstudenten, aus seiner reglementierten Welt auszubrechen. Der Film geht an etliche Grenzen religiöser, sexueller und darstellerischer Tabus und bleibt gerade darum ein der Erinnerung stark und lebendig.
Der Gewinner des Goldenen Leoparden dagegen ist heiter, ironisch und manchmal melancholisch. «Right Now, Wrong Then» erzählt zweimal die gleiche Geschichte von einem Filmemacher, der in einer fremden Stadt auf eine junge Frau trifft, und sich um sie bemüht.
In der ersten Version lassen beide Erhlichkeit und Spontanität vermissen und die Begegnung führt in einen grossen Kater. Beim zweiten Mal weichen die exakt gleichen Szenen in kleinen, aber entscheidenden Details von der ersten Version ab: Die beiden sind ehrlich, melancholisch, witzig und liebenswürdig.
Eine heiss umkämpfte Entscheidung
Warum allerdings die Jury den routinierten Film des Südkoreaners Hong Sang-soo dem verstörenden, radikalen Film aus Israel vorgezogen hat, darüber lässt sich wie immer nur spekulieren. Hong Sang-soo war nicht zum ersten Mal in Locarno und er hat auch diesen Film nicht zum ersten Mal gemacht. Sein Oeuvre besteht grösstenteils aus Variationen zum gleichen Thema.
Höchstwahrscheinlich gab es ein längeres Seilziehen in der Jury. Immerhin ist Jurymitglied Nadav Lapid ein Regisseur aus Israel, während die Schauspielerin Moon So-ri aus Südkorea kommt. Die anderen drei stammen aus Deutschland (Schauspieler Udo Kier), den USA (Produzent Jerry Schatzberg) und aus Mexiko (Festivaldirektorin Daniela Michel).
Der silberne Leopard
Allerdings lässt der Regiepreis für den polnischen Altmeister Andrzej Zulawski und sein furios schnellsprechendes, surrealistisch-romantisches Feuerwerk «Cosmos» (zur Filmbesprechung) darauf schliessen, dass bei der ganzen Jury eine gewisse Vorliebe für heiter-abstruse Beziehungs-Kungeleien vorhanden ist. Und die kam natürlich eher Hong Sang-soo zugute als dem Höllensturz aus Israel.
Die Silberne Auszeichnung für die beste Darstellerin teilt sich das Frauen-Ensemble des japanischen Films «Happy Hour», Sachie Tanaka, Hazuki Kikuchi, Maiko Mihara und Rira Kawamura (zur Filmbesprechung).
Der über fünfstündige Film wurde von einer Kritikerin – nicht ganz unpassend – als «Sex and the City auf Japanisch» bezeichnet. Der Film erhielt auch eine lobende Erwähnung für das Drehbuch von Ryusuke Hamaguchi.
Der Publikumspreis geht an den deutschen Justizthriller «Der Staat gegen Fritz Bauer» (zur Filmbesprechung). Den Goldenen Leoparden in der Nachwuchssektion «Cineasti del presente» erhält «Thithi».
Der einzige Schweizer Beitrag im Hauptwettbewerb, das Kollektivwerk «Heimatland» (zur Filmbesprechung) musste sich mit dem dritten Preis der Jugendjury zufrieden geben.