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Film & Serien Web-Serien: Kleine Bildschirme, grosses Kino

Kleine appetitliche Serienhäppchen für zwischendurch, können die satt machen? Deutschsprachige Web-Serien hinterlassen oft einen enttäuschten Nachgeschmack. Aber wie ist es mit Produktionen aus dem Fast-Food-Staat Nummer eins, den USA?

Baff! Der Anfang ist mittendrin, die Geschichte beginnt kurz vor dem dramatischen Höhepunkt. Im Netz müssen Handlungsfäden schnell auf Hochspannung gezogen werden und den Zuschauer fesseln, sonst klickt er weg. Web-Serien beginnen also etwa so: Auf einen Schlag sind alle Kinder von der Erde verschwunden, ein Paar reisst sich schmerzhaft voneinander los, Tim liegt im Sterben. Nur ganz oben auf der Spannungskurve ist der Zuschauer bereit, ein paar Minuten zu surfen.

Trotzdem denken viele bei Web-Serien zuerst an Videos von Hinz und Kunz und ihren lustigen Freunden, wackelige Clips à la «Uups, die Pannenshow». Mit Web-Serie ist aber ein eigenes Genre gemeint, kurze Filme, die über mehrere Episoden eine Geschichte erzählen. Sie übernehmen meist Konzept und Ästhetik von erfolgreichen TV-Serien, inhaltlich und formal sind Web-Serien aber freier und sie dauern durchschnittlich nur etwa fünf Minuten.

Nicht für den Mainstream zurechtgebogen

Wer jetzt an appetitliche Häppchen denkt, die nicht satt machen, der hat sich bislang womöglich nur durch das deutschsprachige Angebot geklickt: Teilweise mit der neusten Technik produziert, inhaltlich aber grösstenteils unterentwickelt. In den USA gehen Filmemacher schon anders mit dem neuen Genre um. Sie produzieren aussergewöhnliche, gewagte und verschrobene Inhalte, denen sich das Fernsehen (noch) versperrt. Hier findet man direkten künstlerischen Ausdruck, der von keiner Produktionsfirma, von keinem Sender mainstreamgerecht zurechtgebogen wurde.

«Shrink», ein Seelenklempner in einer Garage

Ein Mann und eine Frau sitzen sich gegenüber und schauen sich in die Augen. Der Mann hält Stift und Papier in der Hand. Im Hintergrund sieht man Gerümpel im Schein einer Glühbirne.
Legende: Szene aus einer improvisierten Therapiesitzung von «Shrink». ZVG

Ein gutes Beispiel für eine experimentelle Netz-Produktion ist «Shrink», die Web-Serie des amerikanischen Improvisationskünstlers und Filmemachers Ted Tremper. Das Besondere ist, es gibt kein Skript, kein einziges geschriebenes Wort. Wie in Trempers erster Web-Produktion «Break-ups» ist alles Improvisation. Die Schauspieler entwickeln ihre Charaktere beim Dreh, Tremper führt sie als Regisseur immer wieder zu besonders emotionalen Momenten zurück. Aus etwa einer Stunde Drehmaterial, so erzählt er selbst, schneidet Ted Tremper dann eine fünfminütige Episode zusammen.

Vom Web ins Fernsehen

Während «Shrink» es nach einem Erfolg im Internet auch als 22-minütiger Zusammenschnitt ins Fernsehen geschafft hat, funktionieren viele Web-Serien nur im Netz. Mit einer einzigen Kameraeinstellung gedreht, würde die Serie «You suck at Photoshop» wohl kaum einen vor den Fernseher ziehen. Auf Youtube wurde die Web-Serie aber vier Millionen Mal geklickt! Und auch die kanadische Webserie «Deep» hat ihren Reiz vor allem als Pausensnack im Netz, als kurzer abstruser Denk-Anstoss, der über soziale Medien weitergereicht wird.

Die «Freunde» in Netz-Serien

Doch wie «sozial» ist die Kurzversion der TV-Serie? TV-Serienhelden scheint man irgendwann zu kennen, sie werden zu «Freunden». Web-Serien sind zu kurz, um eine derartige Bindung zu schaffen. Dieses Manko fängt das Netz in vielen so genannten «Soaps 2.0» mit Charakter-Profilen oder Interaktivität auf. Bei «They call us Candy Girls» haben die Protagonisten zum Beispiel ein Myspace-Profil, so dass man sie als Freunde hinzufügen kann. Bei «blaschke.tv» konnten Nutzer sogar Einfluss auf das Drehbuch nehmen.

Der wilde Westen der neuen Medien

Vier junge Frauen stehen gemeinsam vor einem grossen Spiegel und machen sich zurecht: Sie zupfen an den Trägern ihres Oberteils, stecken Ohrringe an oder frisieren sich.
Legende: «They call us Candy Girls»: Mädels werden zu «Freundinnen» der Zuschauer. Ben Wolf

Auf kleinen Bildschirmen können Web-Serien jederzeit aus der Tasche gezogen werden, die Entwicklung neuer Formen und Inhalte entwickelt sich im Galopp, und die Geschichten gehen ans Herz. Sprich: Mit der Produktion von Web-Serien begeben sich die Macher in dünn besiedelte Gefilde, in den «Wilden Westen» der neuen Medien, wie es der Filmemacher Ted Tremper beschreibt. Ein spannendes Kapitel der Netz-Eroberung, auch für Produktionsfirmen und Sender.

Also alles gut, wäre da nicht die leidige Frage der Finanzierung. Produktionsfirmen von TV-Serien werfen immer öfter Zusatzfutter ins Netz, wie etwa bei «Lost» oder «Battlestar Galactica», das als Bonus-Material oder Marketing-Instrument dient. Und auch Konzern-Giganten wie Microsoft oder Yahoo wittern Potenzial in den kleinen Soaps, buttern Tausende rein und bestimmen dann aber auch mit. Unabhängigen Filmemachern bleibt für experimentelle Webvideos nur die Finanzierung über Werbung oder Product-Placement: Das ist unzufriedenstellend für die Macher und nervig für die Zuschauer.

Video
Ted Tremper über den «Wilden Westen» der neuen Medien
Aus Kultur Extras vom 06.12.2012.
abspielen. Laufzeit 1 Minute 8 Sekunden.

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