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Gesellschaft & Religion André Glucksmann: ein Philosoph mit radikalen Richtungswechseln

André Glucksmann ist gestorben. Was wird von ihm bleiben? Als grosser Philosoph wird er nicht in die Geschichte eingehen, sagt Jürg Altwegg, Kultur-Korrespondent der «FAZ» und Frankreich-Kenner: «Aber er ist einer der interessantesten französischen Denker der letzten 50 Jahre.»

Frankreichs Staatspräsident François Hollande hat Andre Glucksmann als «Philosophen der Unterdrückten» gewürdigt. Sind Sie mit dieser Formulierung einverstanden?

Jürg Altwegg: Diese Einschätzung ist zutreffend, wenn auch ein wenig pauschal. Aber man muss sich vergegenwärtigen, woher Glucksmann kam: Er wurde kurz vor dem Krieg in Frankreich geboren. Er hat die Wirren und Schrecken des Krieges als Kind in Frankreich erlebt. Sein Vater wurde deportiert und ermordet, seine Mutter war im Widerstand. Vor diesem Hintergrund des Antifaschismus wurde Glucksmann eben Kommunist – wie fast alle damals in Frankreich. Und er hat dem Kommunismus die Treue gehalten, solange man nicht wusste, dass auch der Kommunismus der schlimmsten Verbrechen fähig war.

Glucksmann wandelte sich später vom Maoisten zum dezidierten Anti-Marxisten. Was gab den Anstoss zu diesem Richtungswechsel?

Einmal war es Solschenyzins Buch über den Gulag. Das war in Frankreich eine Offenbarung. Und es löste einen Schock aus. Weil die Verbrechen der Stalinisten und Kommunisten völlig tabuisiert worden waren. Dann hat der Hass auf den Kommunismus aber auch damit zu tun, dass die Kommunisten im Mai 1968 auf Seiten der Gaullisten gegen den Aufstand kämpften. Man wurde sich bewusst, wie reaktionär auch kommunistische Regimes sein konnten. Da war der Umschlag von den Ideologien zu den Anti-Ideologien sehr schnell und radikal.

André Glucksmann gilt als Mitbegründer «Nouvelle philosophie». Wofür stand diese Bewegung?

In einer ersten Phase für die Überwindung des Marxismus und Kommunismus in Frankreich. In einer zweiten Phase kam die Aufarbeitung der eigenen Vichy-Vergangenheit ins Spektrum. Frankreich hatte sich mit seiner Verganenheit überhaupt nicht befasst, sie wurde verdrängt. Das führte zu der Einsicht, dass es in Zukunft darum gehen würde, Verbrechen, wie damals im Krieg oder jene der Kommunisten, zu vermeiden. Die neuen Philosphen in Frankreich haben später Saddam Hussein im Golfkrieg oder Slobodan Milošević in Jugoslawien ganz eindeutig mit Hitler gleichgesetzt und dann nochmals bekämpft. Ihre Weltanschauung war ein bisschen schematisch.

André Glucksmann hat sich dezidiert zu politischen Fragen geäussert und zum Beispiel für ein Eingreifen im Irak plädiert. Wie steht diese Haltung in Bezug zu dieser Philosophie?

Sie war eine logische Konsequenz. Weil sie das Eingreifen zum politischen Imperativ macht. Es geht darum, die Verbrechen der Ideologien zu vermeiden. Eine Zeitlang hatte man den Eindruck, dass der Islam den Kommunismus und den Nazismus abgelöst habe. Es gibt deshalb schon eine gewisse Logik in diesem Kampf.

Glucksmann offenbar keine Schwierigkeiten damit, radikale Richtungswechsel zu vollziehen. Wenn Sie auf sein Werk zurückschauen, Jürg Altwegg: Was ist Glucksmann bleibende Leistung?

Dass es in seinen Richtungswechseln doch eine gewisse Logik auszumachen gibt. Und diese Logik ist der Anti-Totalitarismus. Bleiben werden die Werke, die er ihm gewidmet hat. In «Köchin und Menschenfresser» geht er dem Ursprung des Nationalsozialismus in der deutschen Philosophie nach. André Glucksmann wird nicht als grosser Philosoph in die Geschichte eingehen. Er hat kein System des Denkens hinterlassen oder entworfen. Aber er ist einer der interessantesten französischen Denker der letzten 40, 50 Jahre, an dem man die verwirrenden politischen Entwicklungen in Frankreich festmachen kann. Und was ich vielleicht auch noch anfügen muss: Es gibt viele konservative Intellektuelle in Frankreich, die die ganze ideologische Abgrenzung von den Neofaschisten aufs Spiel setzen. Da war Glucksmann kompromisslos. Er hat sich stets von Le Pen und vom Front national abgesetzt. So wie er sich auch von den Linksextremen, den Kommunisten und Stalinisten distanziert hat.

Sendung: SRF 2 Kultur, Kultur kompakt, 09.11.2015, 17:06

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