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Gesellschaft & Religion Billigdroge Paco – der Fluch der argentinischen Elendsviertel

Paco, ein Abfallprodukt von Kokain, ist seit 2001 in den Elendsvierteln von Buenos Aires weit verbreitet. Vor allem Jugendliche rauchen die klebrigen Brösel mit kleinen, selbstgebastelten Pfeifen. Die Wirkung der Droge ist verheerend: Paco-Süchtige wandeln wie lebende Tote durch die Strassen.

Sie liegen in den U-Bahn-Eingängen, zusammengekrümmt. Um dem Tageslicht zu entfliehen, haben sie sich das T-Shirt über den Kopf gezogen. Ihre jungen Körper wirken leblos.

Keiner der Passanten scheint Anstoss daran zu nehmen, als jemand mit hastigen, unkoordinierten Bewegungen den Jugendlichen die durchgelaufenen Turnschuhe auszieht und mit seiner Beute verschwindet. Ihre Körper liegen regungslos da. «Mira los paqueros!» - «Schau die Paco-Abhängigen!» sagt ein Passant und verliert sich in der Menschenmenge. Es ist Rushhour in Buenos Aires.

Vom Abhängigen zum Helfer

Jeremias ist 20 Jahre alt und schaut hin – hin zu jenen Jugendlichen, die sich aufgegeben und Zuflucht in der Droge Paco gesucht haben. Der Tag, an dem Jeremias vor drei Jahren mit dem «Teufelszeug» in Berührung kam – wie er die Elendsdroge bezeichnet – war der schlimmste seines Lebens, erklärt er.

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Jeremias: «Ein Junge erklärte mir, wie ich Paco rauchen muss.»
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Heute ist er clean und hat Paco den Kampf erklärt. Tag für Tag zieht er um die Häuser auf der Suche nach abgemagerten Gestalten, deren Blick ins Leere geht – dort wo nichts mehr ist. Jeremias will ihnen zeigen, dass auch auf sie ein wertvolles Leben wartet.

Gestreckt mit Glassplittern und Rattengift

Paco ist ein Abfallprodukt aus der Kokainherstellung. In reiner Form ist die Droge kaum auf dem Markt zu kaufen, in der Regel wird sie mit Koffein und Amphetaminen oder mit anderen Abfallprodukten wie Glassplittern und Rattengift gestreckt. So kann weniger Kokapaste zu einem höheren Preis verkauft werden. Umgerechnet kostet eine Dosis Paco weniger als 5 Franken.

Die Wirkung von Paco gleicht jener des Kokains, so der Psychiater José Capese, doch die Folgen seien fataler. Die anfängliche Euphorie, die einen Schmerzen und Hunger vergessen lassen, weicht nach nicht einmal einer Minute Halluzinationen, Panikattacken und der Gier, die nächste Paco-Dosis zu beschaffen.

Zwischen 50 und 150 Päckchen der Droge konsumieren jene jungen Leute, die «los muertos vivos» genannt werden – lebende Tote. Paco stillt ihren Appetit, so dass sie mit der Zeit verhungern. Abgemagert, mit leerem, ausdruckslosem Blick und motorischen Störungen wandeln sie wie Zombies durch die Strassen – den Bezug zur Wirklichkeit haben sie verloren.

Die Droge als einzige Zukunftsperspektive

Familiäre und wirtschaftliche Probleme sind oftmals der Auslöser für Kinder und Jugendliche wie Jeremias, in die Welt der Drogen zu flüchten. So konnte der damals 17jährige es nicht mehr ertragen, dass seine Mutter von seinem Vater geschlagen wurde und suchte seine Ohnmacht mit Paco zu betäuben.

Vor allem in den Elendsvierteln scheint der Griff zur Droge für viele Jugendliche die einzige Zukunftsperspektive zu sein. Allein rund um die Hauptstadt Buenos Aires, so der Buchautor Jorge Tassin, gibt es über 200 Elendsviertel, in denen über fünf Millionen Argentinier leben.

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Jorge Tassin: «Jugendliche aus den Elendsvierteln werden diskriminiert.»
00:33 min
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Diese Elendsviertel befinden sich zum Teil auch im Herzen der Stadt Buenos Aires und sind Sitz zahlreicher so genannter Kokainküchen. Waren es bislang vor allem Kolumbien und Bolivien, die in Südamerika immer wieder für Schlagzeilen sorgten, wenn es um das Thema Drogen ging, ist Argentinien mittlerweile der neue Hotspot der Drogenproduktion und des Drogenhandels in der Region geworden. Von der Hauptstadt Buenos Aires aus wird Kokain in grossen Mengen nach Spanien geschmuggelt und gelangt von dort auf den europäischen Markt.

Auf Drängen der Vereinten Nationen wurde seit Ende der 1990er Jahre in Kolumbien, Peru und Bolivien die Einfuhr von Chemikalien, die für die Kokainherstellung nötig sind, deutlich erschwert. Die Drogenmafia verlagerte daraufhin ihre Kokainproduktion zu grossen Teilen in die Nachbarstaaten Brasilien, Chile, Uruguay und Argentinien. Mit den Kokainküchen hielt auch Paco im Land Einzug.

Die schnelle Sucht

Paco kennt keine gesellschaftlichen Grenzen. Obwohl es oft als die Droge der Armen tituliert wird, hat es mittlerweile auch die Mittel- und Oberschicht erreicht.

Die Folgeschäden des Paco sind verheerend. Die Kokapaste greift die Grosshirnrinde an und ist viel aggressiver als die Kokain-Hydrochloride, zudem macht sie schneller und stärker abhängig. Der Süchtige verspürt weder Schmerz noch Hunger, er wird impulsiver und in gewisser Art und Weise unmenschlich.

Mütter kämpfen um ihre Kinder

Die Regierung scheint machtlos zu sein gegen den unaufhaltsamen Vormarsch des Paco. Eine Machtlosigkeit, die sich unter anderem dadurch manifestiert, dass es von offizieller Seite wenig aktualisierte Daten oder Informationen zu der Anzahl der Paco-Abhängigen gibt. Inoffiziellen Zahlen zufolge sollen es über eine Million sein. Eine offizielle Stellungnahme von Seiten der Regierung war nicht zu erhalten, Interviewtermine wurden mehrmals im letzten Moment abgesagt.

Zwei Jugendliche stehen auf einer verdreckten Strasse. Einer der beiden hält eine Paco-Zigarette in Händen.
Legende: Rund eine Million Paco-Abhängige soll es in Argentinien geben, die meisten davon sind Jugendliche. Reuters

«Es ist, als würde die Regierung denken, wenn man das Problem ignoriert oder totschweigt, existiere es nicht» erklärt Maria Rosa González, die Mutter von Jeremias. Es sind vor allem die Mütter der Paco-Abhängigen, die für das Leben und Überleben ihrer Kinder kämpfen. 2003 haben sie sich zu den Müttern des Pacos zusammengeschlossen – anlehnend an die Mütter der Plaza de Mayo, die während und nach der Militärdiktatur Ende der 1970er Jahre mit umgebundenen weissen Kopftüchern vor dem Regierungsgebäude protestierten, um zu erfahren, was aus ihren verschwundenen Kindern geworden ist.

Schwieriger Entzug und kaum Therapieplätze

Das Schwierigste sei es, Rehabilitationsplätze für die abhängigen Kinder zu bekommen, erklärt Maria Rosa González. Einen kalten Entzug schafft fast niemand. In der ersten Entzugsphase kämpfen die Abhängigen mit Verfolgungserscheinungen, Angstzuständen und tiefen depressiven Phasen.

Eine sichtbare Verbesserung beginnt erst mit der Nahrungsaufnahme und das ist oft der Moment, wo viele denken, sie seien über den Berg, erklärt die Psychiaterin Debora Serbrisky. Ein erfolgreicher Entzug kann allerdings bis zu drei Jahre dauern.

Von Seiten der Regierung werden landesweit rund 70 Entzugsanstalten betrieben, die jeweils eine Kapazität von etwa 30 Plätzen haben. Allein im Jahre 2011 ist der Paco-Konsum um 200 Prozent gestiegen. Neue Plätze für Entziehungskuren werden jedoch kaum geschaffen, erklärt Maria Rosa González.

Ohne seine Mutter, sagt Jeremias, wäre er heute womöglich nicht mehr am Leben. Gemeinsam kämpfen Mutter und Sohn gegen jene Droge, die Argentiniens Jugend ihrer Zukunftsperspektive beraubt.

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