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Gesellschaft & Religion Das Lebensende in Würde in die Hand nehmen

Verzweiflung, Wut, Angst: Der Umgang mit einem baldigen Tod ist für die meisten Menschen eine grosse Bürde. Gian Domenico Borasio versucht die Angst vor dem Sterben zu lindern. Die psychische Unterstützung sei dabei genauso wichtig wie die physische, sagt der Professor für Palliativmedizin.

Zugespitzt kann man sagen: Alles verändert sich – nur der Tod bleibt unser Schicksal. Für viele Menschen ist mit dieser Tatsache die Angst vor dem Sterben verbunden.

Zur Person

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Legende: Keystone

Gian Domenico Borasio (geb. 1962) ist Professor für Palliativmedizin an der Universität Lausanne. Seine Bücher «Über das Sterben» (2011) und «selbst bestimmt sterben» (2014) sind bei Beck erschienen.

Gian Domenico Borasio: Weil sie falsche Vorstellungen davon haben. Vor allem in meinem ersten Buch mit dem einfachen Titel «Über das Sterben» habe ich versucht, diese Angst ein wenig zu reduzieren, indem ich die vielen Möglichkeiten aufzeige, die wir heute haben, um unnötiges Leiden in der letzten Lebensphase zu lindern.

Dank der Palliativmedizin muss niemand mehr unter Schmerzen leiden?

Ich spreche bewusst nicht von Schmerzfreiheit, sondern von Linderung. Das realistische Ziel ist es, physische Schmerzen so zu lindern, dass sie erträglich werden und für die ganzheitliche Betreuung kein Hindernis mehr darstellen. Die Symptomlinderung macht ja höchstens die Hälfte der Palliativbetreuung aus. Die andere Hälfte gilt der spirituellen und psychosozialen Begleitung. Die Gleichsetzung von Palliativbetreuung mit Schmerztherapie hat mit der Realität auf Palliativstationen überhaupt nichts zu tun. Das verbreitete Missverständnis ist aber ganz im Sinn der pharmazeutischen Industrie. Mit spiritueller Betreuung lassen sich nun mal keine Umsätze machen...

... und das Profitdenken schliesst keine Phase des Lebens aus. Ein wichtiger Punkt. Aber davon abgesehen – lässt sich nicht auch die ganzheitliche Betreuung am Lebensende kritisieren? Ist damit nicht eine Überforderung des Sterbenden verbunden, der im letzten Augenblick noch Sinnfragen klären, Konflikte lösen und sich mit Gott und der Welt versöhnen soll?

Alle diese Möglichkeiten sind als Angebote zu verstehen, die immer nur für einen Teil der Patienten sinnvoll sind. Deshalb plädiere ich für eine «hörende Medizin», weil es genau das ist, was den Arzt vom Automechaniker unterscheidet: seine Fähigkeit zur Empathie und zum Verständnis dessen, was die Position des Patienten ist – die sich im Laufe einer schweren Krankheit vielleicht auch ändert. Würde man ihm jedoch die Palette der Möglichkeiten vorenthalten, wäre das aus meiner Sicht ein Verstoss gegen das Menschenrecht auf eine gute Behandlung am Lebensende.

Zu diesem Menschenrecht gehört in der Debatte der Sterbehilfe für viele auch die Möglichkeit, sich für das Ende zu entscheiden.

Damit sind wir wieder bei der Angst vor dem Sterben, die oft der Grund für diesen Ausweg ist. Tatsächlich befürworten viele Menschen die Option der Suizidhilfe – aber wo sie erlaubt ist, nehmen nur sehr wenige sie wahr. Für diese wenigen Menschen in Deutschland muss man allerdings eine Lösung finden, die nicht im Totalverbot liegen kann, sondern eine ärztliche Begleitung mit der Option der Suizidhilfe für Extremfälle einräumen sollte. Wichtiger erscheint mir jedoch, das liebevolle Unterlassen am Lebensende wieder zu praktizieren. Auf diese Weise lässt sich auch die Übertherapie sterbender Menschen verhindern, die es leider allzu häufig gibt.

Dann wünscht man sich eine gute Haltung und Würde bis zuletzt. Was sagen Sie den Menschen, die es entwürdigend finden, wenn man gefüttert und gewindelt wird und die Kontrolle über den eigenen Körper aufgeben muss?

Von dem Kulturphilosophen Gernot Böhme habe ich den Begriff der Souveränität ausgeliehen, um ihn auf diese Situation am Lebensende anzuwenden. Dabei geht es um die tiefe Ablehnung, die wohl jeder bei der Vorstellung empfindet, in körperlicher Hinsicht vollkommen auf die Hilfe anderer Menschen angewiesen zu sein. Aber auch um die Kraft, diese Ablehnung gewissermassen zu transzendieren, sie zu überwinden, indem man sich sagt: «Ja, das alles möchte ich nicht. Aber ich bin in dieser Situation und will versuchen, den geistigen Schritt zu gehen, um meine Abhängigkeit zu akzeptieren. Und die Bereitschaft anderer Menschen, mich zu pflegen, als ein Geschenk anzunehmen.» Wenn im Bewusstsein der Ablehnung dieser Schritt über sie hinaus gelingt, entsteht Souveränität. Eine geistige Haltung, über die wir nachdenken sollten.

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