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Düstere Diagnose Die Angst vor dem Abstieg ist begründet

Rolltreppe nach unten statt Fahrstuhl nach oben: Für den Soziologen Oliver Nachtwey ist die Zeit des kollektiven Aufstiegs vorbei.

Das Wichtigste in Kürze:

  • Der Soziologe Oliver Nachtwey sagt, die Zeiten, in denen alle Gesellschaftsschichten gemeinsam aufstiegen, seien vorbei.
  • Heute finden ökonomische Aufstiege immer seltener statt. Für viele geht es sogar abwärts.
  • Das führt zu einer Spaltung der Gesellschaft und zu sozialen Konflikten.

Die Bundesrepublik Deutschland sei zu einer Abstiegsgesellschaft geworden, in der einzelne zwar noch aufsteigen könnten, der Weg nach oben aber versperrt sei. Und nicht nur das: «Die kollektive Angst vor dem sozialen Abstieg scheint allgegenwärtig zu sein», schreibt Oliver Nachtwey in der Einleitung zu seiner ökonomisch-sozialen Gesellschaftsanalyse «Die Abstiegsgesellschaft».

Zur Person

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Der Soziologe Oliver Nachtwey, geboren 1975, forscht zu den Themen Arbeit, Ungleichheit, Protest und Demokratie.

Besonders die Unterschicht und die untere Mittelschicht seien von dieser Abstiegsangst erfasst. Hinsichtlich Bildung sei ein Aufstieg – gemessen am Bildungsniveau der Elterngeneration – zwar noch möglich, der ökonomische Aufstieg finde jedoch immer seltener statt.

Die promovierte Philosophin, die zu einem Niedriglohn Taxi fährt, und der Sprachwissenschaftler, der sich mit unsicheren Kleinstpensen als Barista, Nachhilfelehrer und Texter über Wasser hält, würden immer häufiger.

Vom Aufstieg für alle...

«Noch bis in die achtziger Jahre war die bundesdeutsche Gesellschaft durch den ‹Fahrstuhleffekt› gekennzeichnet.

Dessen Pointe war, dass Ungleichheiten zwar bestehen blieben, Arm und Reich im Fahrstuhl aber gemeinsam nach oben fuhren, weshalb die sozialen Unterschiede an Bedeutung verloren», hält Oliver Nachtwey in seinem Buch fest.

Um die gegenwärtige Situation zu erklären, zeichnet er das Bild einer Rolltreppe: «Einige Wohlhabende haben mit der Rolltreppe bereits die nächste Etage erreicht, wo sie sich umsehen können, oder sie steigen auf die nächste Treppe und fahren weiter nach oben. Für die meisten derjenigen, die die obere Etage noch nicht erreicht haben, ändert sich nun die Fahrtrichtung. Während es lange Zeit nach oben ging, fahren sie nun nach unten.»

Kollektiv betrachtet, gehe es für die Arbeitnehmer heute abwärts, «und die Abstände zwischen oben und unten vergrössern sich.»

...zum Abstieg für viele

Denn seit Ende der 1980er-Jahre und vor allem seit Beginn der 1990er-Jahre hat sich einiges geändert. Das Wirtschaftswachstum hat sich abgeschwächt, schreibt Oliver Nachtwey.

Buchhinweis

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Oliver Nachtwey: «Die Abstiegsgesellschaft. Ueber das Aufbegehren in der regressiven Moderne». Edition Suhrkamp, 2016.

Immer mehr Einkommen werden durch Kapitalgewinne erzielt und nicht mehr durch Lohnarbeit, und die Flexibilisierung der Lohnarbeit – befristete Verträge, Leiharbeit, Tieflohnjobs, Anstellungen bei Subunternehmen, die nicht an Gesamtarbeitsverträge gebunden sind – das alles hat die Aufstiegschancen eines beträchtlichen Teils der Bevölkerung deutlich geschmälert.

Der Mensch als Ressource

Der Zusammenbruch des Realsozialismus 1989/90 habe das wirtschaftsliberale Denken alternativlos erscheinen lassen. Politik und Unternehmen dächten lediglich noch in Kategorien wie Wettbewerbsfähigkeit, Marktkräfte und Standortmarketing – und viele Menschen hätten dieses Denken verinnerlicht.

Sie würden sich heute selbst «als Humankapital, als Ressource» betrachten, sich «konformistischer verhalten», um im Wettbewerb um Arbeitsplätze bestehen zu können. Und viele würden sich stärker gegen andere Bevölkerungsgruppen abgrenzen und etwa «Migranten als unproduktive Mitesser» verstehen.

Einseitiges Marktdenken

Soziale Konflikte sind also in Sicht. Im Gespräch sagt Nachtwey: «Es kommt zu einer Polarisierung, zu einer Spaltung der Gesellschaft. Gesellschaften, die insgesamt wohlhabender werden, dabei aber ein Drittel ihrer Bevölkerung nicht mitnehmen, erleben im Grunde einen kollektiven Abstieg, weil die Gesellschaft ihr Potenzial nicht mehr ausschöpft, sondern hinter ihr eigenes Potenzial zurückfällt.»

Der Nachkriegskonsens des sozialen Ausgleichs ist verloren gegangen in einer Gesellschaft, die einseitig vom Marktdenken bestimmt wird und in der solidarisches Handeln kaum mehr denkbar sei, sagt Oliver Nachtwey.

Hazy Osterwald, widerlegt

Die Rolltreppe. Ein Schelm, wer dabei an den Bandleader Hazy Osterwald und an seinen Hit «Der Fahrstuhl nach oben ist besetzt» aus dem Jahr 1966 denkt: «Der Fahrstuhl nach oben ist besetzt, sie müssen warten. Sie können zum Weg nach oben jetzt erst später starten.»

Denn, wie Oliver Nachtwey darlegt, 2017 fährt kein Fahrstuhl nach oben mehr, sondern eine Rolltreppe, und zwar für viele nach unten.

Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 4.7.2017, 09:03 Uhr

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