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Gesellschaft & Religion Die Spitex krankt an zu viel Schreibtischarbeit

Bei Krankheit oder im Alter gepflegt werden – das möchten die meisten Menschen. Bahn frei für die Spitex? Nicht wirklich. Für Marlis Glaus, Leiterin der Spitex Rüschlikon, leidet die Spitex am administrativen Aufwand – die Kernkompetenz Pflege kommt so zu kurz. Es gäbe aber einen Ausweg.

SRF Kultur: Marlis Glaus, was fasziniert Sie an der Arbeit bei der Spitex?

Marlis Glaus: Ich finde es interessant, die Menschen in ihren eigenen vier Wänden zu erleben. Da bekommt man viel mit. Sie sind da auch viel selbstbestimmter. Sie sagen, was sie brauchen und wollen. Das passt nicht immer zusammen mit unseren professionellen Vorstellungen und ist herausfordernd. Ausserdem liebe ich die professionelle Eigenständigkeit, die in der Spitex möglich ist.

Zur Person

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Marlis Glaus schloss in Aarau ihr Diplom als Pflegeexpertin und in Maastricht ihren Master in Nursing Science ab. In ihrem Berufsleben hat sie gepflegt und ausgebildet. Nun ist sie Pflegedienstleiterin der Spitex Kilchberg/Rüschlikon.

Viel Faszination also, wo drückt denn bei all dem Guten der Schuh?

Der Schuh drückt nicht in der Pflege der meist alten und mehrfach erkrankten Menschen. Auch nicht in deren Betreuung. Der Schuh drückt ziemlich heftig da, wo es um den Papierkrieg zwischen den Gesundheitsprofis und den Krankenkassen geht.

Wie sieht dieser Papierkrieg aus?

Die aufwändigen administrativen Tätigkeiten – der Dokumentationszwang. Das hat sich in den letzten zwei Jahren sehr verstärkt. Alles muss festgehalten und von einem Arzt unterschrieben werden, der sehr oft die Verhältnisse gar nicht kennt. Das bindet viele Kräfte. Bestausgebildetes Pflegepersonal sitzt mehr am Computer als am Bett! Das sind unsinnige Abläufe, die viele Kosten binden.

Aber Controlling muss doch sein? Schliesslich gibt es ein Krankenversicherungsgesetz – und wir haben alle ein Interesse daran, dass die Prämien nicht weiter steigen.

Erstens muss klar sein: Die Spitex ist gemessen an ihrer Leistung nicht teuer. Sie macht gerade mal 2,8 Prozent der gesamten Gesundheitskosten aus. Zweitens: Ich setze ein grosses Fragezeichen hinter die Wirtschaftlichkeit des Controllings. Es kann nicht aufgehen, dass immer mehr Ressourcen in der Administration gebunden werden. Davon haben unsere Klienten herzlich wenig.

Ist das, was Sie so beklagen, nicht auch ein Teil der Professionalisierung der Pflege? Ein differenzierter Leistungsausweis sozusagen?

Junge Hand cremt eine alte Hand ein.
Legende: Menschliche Bedürfnisse halten sich oft nicht an Formulare. Spitex Verband Schweiz/Monika Flückiger

Stimmt. Das ist ein Vorteil. Es zwingt uns exakte Pflegediagnosen zu stellen und diese zu begründen. Wir müssen erklären, weshalb bei einer Patientin die vorgesehenen zehn Minuten für die Verabreichung von Augentropfen nicht reichen, sondern eine Viertelstunde nötig ist.

Und warum ist eine Viertelstunde nötig für ein paar Tröpfchen?

Weil diese Patientin zum Beispiel dement ist und schnell aus der Ruhe kommt und dann verstört und sehr ablehnend ist.

Mit anderen Worten: die Menschen passen selten zu den vorgegeben Formularen?

Ja, da stelle ich mir schon immer wieder die Frage: Vertreten die Controller wirklich die Interessen unserer Klientel? Die ist ja zur Hälfte über 80 Jahre alt. Häufig mehrfach chronisch krank und auch sehr verlangsamt. Es ist eine alte Wahrheit: Gute Pflege braucht Zeit.

Sie sind also im Clinch zwischen Krankenkasseninteressen und Klientenbedürfnissen. Sehen Sie Auswege aus diesem Clinch?

Wir müssen uns zusammensetzen und über die Bücher gehen. Die Spitexverbände und die Krankenkassen. Wir müssen Vieles anschauen: Wo sind Leerläufe? Wo werden Pflegeprofis gegängelt? Wo wird ihrem Wissen und ihrem Einschätzungsvermögen unnötigerweise misstraut? Da gibt es einen grossen Unterschied zur Ärzteschaft, die viel weniger zur Rechenschaft gezogen wird.

Was kann die Pflege selber tun für ihr Image bei den Versicherern?

Wir müssen lernen, unsere fachliche Sicht der Dinge selbstbewusster zu begründen und zu vertreten. In Sachen Kommunikation kann unser Berufsstand noch zulegen. Und: Wir müssen die Anwältinnen unserer Klientinnen und Klienten bleiben.

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