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Gesellschaft & Religion Ganz Frankreich ist Charlie – aber wie lange noch?

Eine gewaltige Solidaritätswelle hat Frankreich erfasst. Millionen von Menschen versammelten sich zu Gedenkmärschen an die getöteten «Charlie Hebdo»-Journalisten. Als das Magazin 2007 wegen seiner Mohammed-Karikaturen vor Gericht stand, war die Unterstützung gering – da war kaum einer Charlie.

«Nous sommes un peuple» – «Wir sind ein Volk» titelt die französische Tageszeitung «Libération» im Hinblick auf die gewaltigen Massendemonstrationen in Paris. Auch im Kulturbetrieb ist die Solidarität mit der Satirezeitschrift «Charlie Hebdo» enorm: Frankreichs Theaterhäuser wollen 100 000 Exemplare von der nächsten Ausgabe kaufen, das Centre Pompidou stellt eilig eine Ausstellung zusammen, sogar der Karneval in Nizza soll den Satirikern gewidmet werden.

Gleichzeitig werden kritische Stimmen laut, die fragen, wie ernst gemeint diese überwältigende Solidarität ist. «Man muss sich für Pressezeichner interessieren, solange sie am Leben sind», sagte der Karikaturist Plantu. In den Zeitungsredaktionen habe allerdings eher Angst vor der Unberechenbarkeit der Pressezeichner geherrscht.

Auch die Philosophin Elisabeth Badinter erinnert an die Zeit vor dem Terroranschlag. Heute wisse man, dass «Charlie Hebdo» die Freiheit verkörpere, sagte sie der Sonntagszeitung «Le Parisien», aber vor dem Attentat habe man diese Freiheit kaum verteidigt. Stattdessen herrschte, so Badinter, religiös korrekte Selbstzensur.

«Wir waren jahrelang sehr allein»

Die «Charlie Hebdo»-Zeichner galten als Provokateure. Ganz in der Tradition der französischen Aufklärung unterwarfen sie sich nichts und niemandem, keiner politischen und auch keiner religiösen Autorität.

Als das Satiremagazin 2007 wegen der Mohammed-Karikaturen vor Gericht stand, meinten viele, «Charlie Hebdo» strapaziere das Recht auf Meinungsfreiheit zu sehr. «Wir waren jahrelang sehr allein», sagt Laurent Léger, ein Charlie Hebdo-Journalist, der das Attentat auf die Redaktion überlebte. «Man will aus uns jetzt ein Symbol machen. Das ist verständlich. Aber als kleine Zeitung waren wir in dem allgemeinen Klima in Frankreich sehr isoliert. Immer öfter sagte man uns: ‹Ihr macht schon gute Arbeit, aber ihr übertreibt, ihr schüttet mit euren Zeichnungen Öl ins Feuer›. All diese Leute sagen jetzt auf einmal: ‹Bravo, wir sind auf eurer Seite!› Das bedeutet aber nicht viel. Wir waren sehr allein, und ich denke, in ein paar Monaten werden wir wieder sehr allein sein.»

Wie lange kann und will Frankreich Charlie sein?

Die Überlebenden der «Charlie Hebdo»-Redaktion arbeiten an ihrem nächsten Heft, das am Mittwoch in Rekordauflage von einer Million Exemplaren erscheint. Es wird, so verspricht der neue Chefredakteur Gérard Biard, sich selbst und seinen Idealen treubleiben: dem Humor und vor allem der Laizität – dem Ideal der strikten Trennung von politischer Macht und Religion, einem Grundprinzip der französischen Republik, das in den vergangenen Jahren von Politikern und Religionsvertretern immer wieder infrage gestellt wurde.

«Ich hoffe, man wird uns nie wieder laizistische Fundamentalisten nennen, und also nie wieder das gleiche Wort – Fundamentalist – für die Mörder und die Opfer verwenden», sagt Biard. «Die Laizität ist vielleicht der wichtigste Wert unserer Republik, denn ohne Laizität sind Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit nicht möglich.»

Nach dem grossen Gedenkmarsch werden die Franzosen Antworten auf die Frage finden müssen, für welche Werte ihre Republik steht. Und ob und wie lange Frankreich tatsächlich Charlie sein kann – und will.

Sendung: SRF 2 Kultur, Kultur Aktuell, 12.01.2015, 17:10 Uhr.

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