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Gesellschaft & Religion Google-Poesie und wir

Googles automatische Suchvervollständigung liefert witzige bis skurrile Poesie, wenn die Vorschläge als Vierzeiler von oben nach unten gelesen werden. Ein Finne sammelt die schönsten Gedichte auf einem Blog und ist überzeugt: Was dort abgebildet wird, ist ein Abbild unserer Gesellschaft.

warum sit ...

warum sitzt schäuble im rollstuhl

warum sit dir so truurig

warum sit ihr so truurig

warum sitzt der papst in rom

Ist dies das neuste Gedicht eines jungen Schweizer Dada-Poeten? Eine Hommage an Mani Matters Werk? Nein, dieses Gedicht hat Andreas Müller-Crepon kreiert, Moderator bei Radio SRF 2 Kultur. Zusammen mit Google: Er hat ins Google-Suchfeld «warum sit» eingetippt. Die Suchmaschine hat mit der Vervollständigungs- und Vorschlagsfunktion die weiteren Verse des Vierzeilers geliefert.

Finne erkennt Google-Poesie

Dass man mit Google «Gedichte» schreiben kann, ist letzten Oktober einem Finnen aufgefallen. Nach einer durchfeierten Nacht, kamen dem Filmemacher Sampsa Nuotio Zweifel. Zweifel, ob sein Alkoholkonsum noch vertretbar war. Er setzte sich an den Computer und googelte. Während er seine Suchanfrage eintippte, klingelte das Telefon. Als er kurz darauf an den Bildschirm zurückkehrte, präsentierte ihm Google folgenden Vierzeiler:

Am I an alcoholic

am I fit to drive

am I allergic to dogs

tell me, Andriy, am I

Mit der automatischen Vervollständigungsfunktion hatte Google Nuotios zuvor gestartete Anfrage «am I an alco» vervollständigt und drei weitere Alternativvorschläge angezeigt. Fasziniert gab Nuotio eine Suchanfrage nach der anderen ein: Googles Algorithmus versuchte bereits nach wenigen Tastenanschlägen im Suchfeld vorauszusagen, was er eingeben wollte. Die Kombinationen dieser Vorschläge waren oft lustig, manchmal absurd oder schon fast dadaistisch. Die Google-Poesie war geboren.

Einzigartig, persönlich ...

Audio
Google-Gedicht «Warum sit» – gelesen von Andreas Müller-Crepon
aus Kultur kompakt vom 04.06.2013.
abspielen. Laufzeit 17 Sekunden.

Seither sammelt Nuotio Google-Gedichte aus der ganzen Welt auf der Tumblr-Seite googlepoetics.com. Die Seite ist mittlerweile in neun Sprachen übersetzt. Mitmachen kann jeder, indem er ein Bildschirm-Foto seines Google-Gedichts an Nuotio mailt.

Wer jedoch versucht, das Gedicht von Andreas Müller-Crepon «nachzugoogeln», wird enttäuscht: Die Vervollständigungen von Google unterscheiden sich nicht nur in den verschiedenen Sprachversionen (google.com, google.co.uk, google.it, etc.). Die Ergebnisse variieren auch abhängig davon, ob man in seinem Google-Konto eingeloggt ist. Grund: Die Google-Autovervollständigungen basieren auf Suchanfragen von tatsächlichen Menschen überall auf der Welt.

... und vergänglich

Deshalb sind Google-Gedichte vergänglich, dieselbe Anfrage kann bereits wenig später neue Gedichte liefern. Sie sind auch einzigartig und persönlich: Die Vervollständigungs-Funktion greift auch auf Suchanfragen zurück, die der User früher getätigt hat. Andreas Müller-Crepon hatte in den letzten Tagen zu Mani Matter und zum Thema «Rollator» recherchiert.

Ein intimes Abbild

Die Google-Gedichte sind daher nicht nur eine kleine Spielerei, sie sagen einiges aus über uns, unsere Gesellschaft. «Trotz der scheinbar offenen Natur unserer westlichen Gesellschaft, gibt es immer noch tabuisierte Fragen und Gedanken. Mit diesen Fragen und Gedanken konfrontiert, wenden sich die meisten Menschen nicht aneinander, sondern in der Privatsphäre ihres Zuhauses an Google», erklärt Nuotio auf googlepoetics.com.

Audio
Google Poetics: die flüchtigen Gedichte einer Suchmaschine
aus Kultur kompakt vom 04.06.2013.
abspielen. Laufzeit 3 Minuten 18 Sekunden.

«Im kalten, blauen Schein ihres Bildschirms fragen sie ‹Warum bin ich allein›. Sie fragen sich, wie man einen Joint dreht und ob es zu früh ist ‹Ich liebe dich› zu sagen. Manchmal fragen sie einfach nur: ‹Wäre es nicht besser wenn ich tot wäre?›». Die allwissende Suchmaschine akzeptiert diese Fragen und kombiniert sie mit Liedtexten, Buchtiteln und den Namen von Berühmtheiten.

Natürlich ist Google kein Shakespeare. Für Nuotio aber ist klar: «Google-Gedichte enthüllen unser Innerstes, unsere Ängste und Vorurteile, unsere Geheimnisse und Schamgefühle, die Hoffnungen und Verlangen eines modernen Individuum».

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