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Verfall, Verfall! Ist die deutsche Sprache noch zu retten?
Aus Kulturplatz vom 16.04.2014.
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Gesellschaft & Religion Ist die deutsche Sprache noch zu retten?

Jugendliche beherrschen weder Orthographie noch Interpunktion: Die deutsche Sprache verludert, verschludert und verkommt. Stimmt das eigentlich? Oder ist der Klagekanon um den Sprachverfall nur Quatsch mit Sosse?

Babylon war nichts gegen das Sprachengewirr, das unseren Alltag heutzutage beherrscht. Kein klarer Satz ist zu hören, keine sprachliche Finesse. Fehlerfreie Grammatik? Fehlanzeige. Stattdessen finden sich in jeder SMS krude Abkürzungen. Anglizismen überfluten die deutsche Sprache. Und der Einfluss fremder Sprachkulturen auf die deutsche Hochsprache wird zur neuen Jugendkultur stilisiert. Aus Deutsch wird Denglisch, Deukisch oder Dürkisch. Voll krass ist das alles.

«Wie peinlich die Menschen auf die Gesetze der Sprache und die Regeln der Buchstaben bedacht sind», schrieb Augustinus von Hippo. Und zwar nicht gestern, sondern vor 1700 Jahren.

Kulturpessimist, der vom Sprachverfall spricht

Wand mit der Aufschrift: «Work for Peace».
Legende: Die Alltagssprache ist immer mehr von Anglizismen geprägt – fehlerhafte Schreibweisen inklusive. SRF

Ist das Wehklagen über den Verfall der Sprache etwa ein periodisch immer wiederkehrendes Phänomen, das nur in die Jahre gekommene Kulturpessimisten beklagen? Aus vollem Herzen: Ja. Denn Sprache ist ein lebendiges Fluidum, das sich permanent verändert und erneuert.

Für den Linguisten Peter Sieber von der Pädagogischen Hochschule Zürich ist die Wahrnehmung von Sprache auch davon abhängig, welcher Generation man angehört. «Ich merke doch an meinen Söhnen, dass sie nicht die Sprache sprechen, die ich spreche. Sehr häufig wird dieser Wandel auch als Verfall, als eine Entwicklung hin zum Schlechteren diskutiert.»

Die Sprache ist vielfältiger geworden

Aber sprechen und schreiben Jugendliche denn ein schlechteres Deutsch? Peter Sieber hat im Rahmen einer wissenschaftlichen Arbeit Maturaufsätze von 1880 bis heute verglichen. Natürlich fallen die Unterschiede auf, stilistisch und formal, auch in den Themenstellungen, den Argumentationsmustern.

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Peter Sieber über die Veränderung der Sprache bei Jugendlichen
Aus Kultur Extras vom 16.04.2014.
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Aber hat sich die Sprache verschlechtert? Peter Sieber verneint: «Die Sprache ist vielfältiger geworden. Klar konnten die Maturanden um 1900 in einer Sprache formulieren, die unseren heutigen Maturanden nicht mehr zugänglich ist. Andererseits können heutige Maturanden Dinge formulieren, die vor 100 Jahren ausserhalb der sprachlichen Realisierung waren. Diese Verschiebung hat jedoch nicht zum Schlechteren geführt.»

Dass Rechtschreibung und Zeichensetzung immer schon ein Problem waren, hat auch Peter Sieber festgestellt. Pädagogen klagen über fehlende Kommata und falsche Satzstellungen, solange es Kommata und Satzstellungen gibt. Was sich jedoch stark verändert hat, sind die sprachlichen Anforderungen, denen Jugendliche begegnen müssen. Denn sie leben heute in sehr unterschiedlichen Sprachwelten.

Sprachliche Spur der digitalen Medien

Je nach sozialer Umgebung ziehen sie ein anderes Sprachregister. Sie «switchen» (wechseln) von einer Sprachform in die andere, finden mit Lehrern einen anderen Ton und ein anderes Vokabular als mit Freunden. Sie simsen, twittern und chatten in komplett anderen Sprachformen. Der mediale Umbruch durch digitale Medien hinterlässt hier seine sprachliche Spur.

Ausserdem hat der Wortschatz im Deutschen stark zugenommen. In den letzten 100 Jahren sind 1,6 Millionen neue Worte dazugekommen. Sprachverfall? Von wegen. Vielleicht ist es dieser extreme Wandel der Sprache, der den Kritikern, den Warnern vor dem sprachlichen Super-Gau, Angst und Sorgen bereitet. Ist es die Angst, nicht mehr verstanden zu werden oder nicht mehr zu verstehen? In Zeiten, in denen Filme wie «Fack ju Göhte» so erfolgreich sind? In denen an Universitäten die Forscher international längst nur noch in Englisch kommunizieren? Wenn man plötzlich seine eigenen Kinder nicht mehr versteht? Wenn die «Muttersprache» einem fremd vorkommt?

Got it?

Früher klagte man über Begriffe wie «ächz» oder «würg», die der Comicsprache entnommen wurden. Heute sind es die Kurzformen wie «lol» (Laughing Out Loud) oder «WTF» (What The Fuck). Und morgen werden es Worte, Sprachformen und optische Zeichen sein, die wir in ihrer Pracht und Herrlichkeit noch nicht mal erahnen.

Also vergessen wir den Wahn vom Sprachverfall. OK? Got it? Lol. Denn, so der Linguist Wolfgang Klein: «Die Sprache, das ist die Art und Weise, wie die Leute reden.»

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