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Familienfreundlichkeit in der Schweiz: Interview mit Regula Stämpfli
Aus Kultur-Aktualität vom 14.06.2019. Bild: Keystone
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Letzter Platz bei Studie «Die Schweiz ist bekannt für ein hartnäckiges Ernährermodell»

Die Familienfreundlichkeit ist in vielen Ländern ein emotionales Politikum. Eine neue Unicef-Studie hat nun die Familienfreundlichkeit von 31 Ländern untersucht, die meisten aus dem europäischen Raum.

Die Schweiz ist dabei auf dem letzten Platz gelandet. Warum fällt ein Land, das mit seinem Wohlstand und seiner direkten Demokratie für viele andere Länder oft als Vorbild dient, in Sachen Familienpolitik so weit zurück? Regula Stämpfli kennt Gründe und hat Lösungsvorschläge.

Regula Stämpfli

Regula Stämpfli

Politikwissenschaftlerin

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Regula Stämpfli ist Politikdozentin mit Schwerpunkt Hannah Arendt, political Design and Digital Transformation, Bestseller-Autorin und unabhängige wissenschaftliche Beraterin für die Europäische Union. Sie gilt als eine der anerkanntesten Experten für Demokratie, Medien und Digitalisierung.

SRF: Warum ist die Schweiz in Sachen Familienfreundlichkeit so schwach?

Regula Stämpfli: (lacht) Wie viel Zeit haben wir? Eine Stunde, drei Stunden, vier Jahre? Also: Erst einmal ist die Schweiz bekannt für ein besonders hartnäckiges Ernährermodell. Das heisst, unsere Sozialversicherungen sind am Mann als Familienoberhaupt ausgerichtet.

Das hat über die Jahrzehnte hinweg ein Familienmodell etabliert, das es den Frauen leicht macht, nicht erwerbstätige Mutter zu werden. Und es erschwert die Möglichkeit, als Mutter auch eine Karriere zu verfolgen.

Das hat sozialpolitische, politische und historische Gründe – und nicht nur kulturelle, die immer wieder von den Medien ins Feld geführt werden.

Liegt es auch an unserem föderalistischen System, in dem Familienpolitik in der Schweiz vor allem in den Kantonen und Gemeinden verhandelt wird?

Der Föderalismus allein ist nicht schuld daran. In Belgien etwa – auch ein föderalistischer Staat – klappt das gut, da gibt’s eine hohe Rate an Kindertagesstätten und Kinderkrippen.

Aber die kulturellen Unterschiede spielen eine Rolle. In der Westschweiz ist das französische Modell aufgrund der Sprachnähe zu Frankreich viel beliebter als das deutsche Mutter-Kind-Modell, das immer noch das Mutter-Verdienstkreuz-System kennt.

Hätten wir nur die Deutschschweiz als Beispiel genommen, wären die Deutschschweiz und Deutschland die Schlusslichter der Unicef-Studie, weil sie sich aufgrund ihrer Geschichte gleichen – punkto Sozialversicherungen, Ernährer-Modell und dem ganzen kulturellen, sprachlichen Drumherum, das die Frauen als erwerbstätige Mütter diskriminiert.

Wirken sich diese kulturellen Gründe auf die Familienfreundlichkeit einer ganzen Nation aus?

Nicht nur die kulturellen Gründe. Wir haben Sozialversicherungssysteme seit dem Ersten Weltkrieg, die ganz klar ein familienunfreundliches, respektive gleichstellungsunfreundliches Familienwesen pushen.

Wir haben immer noch die Doppelverdiener-Diskussion, die Steuer-Pakete und so weiter so fort. Und nicht zu vergessen: Wir haben nicht einmal einen Vaterschaftsurlaub. Und der Mutterschaftsurlaub beträgt lächerliche 14 Wochen, und auch der hat Jahrezehnte gebraucht, um eingeführt zu werden.

Lohngleichheit, ein flächendeckendes Krippen- und Tagesschulen-Angebot und Elternschaftsurlaub – dann wären wir schon sehr weit.

Die Schweiz ist in der ganzen Familienpolitik sowohl politisch, juristisch, sozialversicherungstechnisch als auch kulturell-linguistisch darauf ausgerichtet, auf keinen Fall ein Gleichstellungsmodell oder ein fortschrittliches Familienmodell zu ermöglichen. Das wird viel zu wenig diskutiert.

Wie könnte man die Familienfreundlichkeit in der Schweiz steigern? Was müsste konkret passieren?

Wir müssen zunächst die Gleichstellung zwischen Mann und Frau vorantreiben – mit Lohngleichheit, mit einem flächendeckenden öffentlichen Krippen- und Tagesschulangebot und einem anständigen Elternschaftsurlaub. Dann wären wir schon sehr weit.

Zudem brauchen wir auch in den Medien ganz andere Bilder von Familie, dass wir nicht nur die Patchworks, nicht nur die Regenbogenfamilien oder die traditionellen zeigen, sondern einfach zeigen, dass es für ein Kind immer ein Dorf braucht und nicht nur die Eltern, um es aufzuziehen.

Das Gespräch führte Igor Basic.

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