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Interview «Menschen erleben in Todesnähe Glück oder Horrorvisionen»

Nahtoderfahrungen in Form vom Träumen und Visionen sind eher die Regel als die Ausnahme. Das zeigen jüngere Forschungen. Die Psychologin Brigitte Boothe plädiert dafür, dass die Erfahrungen von Sterbenden ernst genommen werden.

SRF: Brigitte Boothe, was interessiert Sie am Tod?

Brigitte Boothe: Das unvermeidliche Ende. Die eigentümliche Gewissheit, dass man lebt als ein Wesen mit Gefühl und Verstand und sich nicht recht vorstellen kann, dass man ohne eigenes Zutun dazu bestimmt ist, zu verschwinden.

Sie waren an einem Forschungsprojekt an der Universität Zürich zum Thema «Vertrauen am Lebensende» beteiligt. Was erleben Menschen in Todesnähe?

Oft etwas sehr Intensives. Sie fühlen sich dem Leben in besonderer Weise verbunden. Sie machen manchmal visionäre Erfahrungen, die vorher in der Routine des Alltags keinen Platz hatten. Es stellen sich Visionen, Träume oder symbolische Bilder ein.

Wie häufig sind solche Erlebnisse in Todesnähe?

Sie sind vergleichsweise häufig. Jüngere Studien deuten darauf hin, dass sie in Todesnähe eher der Normal- als der Ausnahmefall sind. Es gibt nicht nur das typische Muster der bekannten Nahtoderfahrungen mit dem Licht am Ende eines Tunnels und der Stimme, die zur Rückkehr mahnt. Es gibt verschiedene Formen von Nahtoderlebnissen. Auch sehr unangenehme, Horrorvisionen. Insgesamt überwiegen die positiven Erfahrungen.

Denken Sie an ein bestimmtes Beispiel?

Eine alte Frau begegnet in einem solchen Erlebnis in Todesnähe voller Glück ihrer Mutter. Die Mutter nimmt sie an der Hand und geht mit ihr in ein ganz neues Land. Eine andere Frau kann ihre Nachbarin im gleichen Krankenhauszimmer sozusagen bis vor die Himmelstüre begleiten. Ihre Zimmernachbarin stirbt in derselben Nacht.

Wie interpretieren sie solche Erfahrungen am Lebensende?

Es ist ein Heimweg voller Hoffnung. Diese Bilder haben etwas Kindliches. Man muss es nicht kritisch wegdenken. Es sind beglückende und tröstliche Erfahrungen. Für die Sterbenden und für die Angehörigen. Am Ende des Lebens haben die Betroffenen den Eindruck, dass nicht alles zu Ende ist. Sie kommen in einen Zustand, der heisst Glück, Fülle, Erlösung und Wiederbegegnung. Das wünschen sich sehr viele Menschen.

Klingt sehr positiv.

Es gibt auch andere Erfahrungen. Menschen können am Lebensende verwirrt sein, bedrückt und belastet von Problemen, die sie nicht haben abschliessen können. Angst oder Schuld am Lebensende kann sehr quälend sein. Gerade für diese Menschen sind Gespräche und auch die spirituelle Begleitung sehr wichtig.

Was hilft spirituelle Begleitung Menschen, die nicht religiös sind?

Ich finde das Wort «spirituelle Begleitung» nicht besonders schön. Es hat sich so eingebürgert. Jemand, der diese Art von Begleitung wünscht, muss nicht religiös sein. Aber er befindet sich in einer aussergewöhnlichen Lebenssituation. Erfahrungen mit einer transzendenten Atmosphäre oder besondere Träume und Visionen werden hier ernst genommen und nicht wegerklärt. Die Menschen werden auch nicht therapiert. Man begleitet sie in diesen Erfahrungen. Allein das hilft vielen Menschen.

Reinkarnation

Ein Fünftel der Gläubigen, die regelmässig einen christlichen
Gottesdienst besuchen, glauben an die Auferstehung – und gleichzeitig an
Reinkarnation. Ist das kompatibel?, fragt Norbert Bischofberger.

Werden wir wiederkommen? Gedanken zur Reinkarnation

Was können Angehörige tun?

Angehörige sind manchmal überfordert oder Teil des Problems. Eine Person, die von aussen dazu kommt, ist sehr hilfreich. Ich erinnere mich an eine alte Frau, die sehr unruhig war. Sie konnte nicht ausdrücken, was sie ängstigte und quälte. Die Pflegenden waren ratlos. Eine junge Pfarrerin hat sich zu ihr gesetzt und ruhig mit ihr gesprochen. Es hat Tage gedauert, bis sich die alte Frau beruhigt hat. Aber dann hat sie einen wohlwollenden Halt erlebt.

Wissen wir mit diesen Nahtoderfahrungen mehr über ein Leben nach dem Tod?

Nein, ganz bestimmt nicht. Man weiss aber etwas über Hoffnungen und Befürchtungen am Lebensende und über die Art, wie man mit Zuversicht an das Ende denken kann.

Frau Boothe, was erwarten Sie persönlich nach dem Tod?

Ich erwarte eigentlich nichts (lacht). Die Bilder von Wiederbegegnung, Himmel und Hölle finde ich eindrucksvoll. Wenn ich an Tod und Sterben denke, finde ich aber die Auseinandersetzung mit dem Sterben, mit der Unausweichlichkeit des Todes wichtiger – und habe hoffentlich die Fähigkeit, dem auf eine gute Art zu begegnen.

Das Gespräch führte Norbert Bischofberger.

Brigitte Boothe

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Brigitte Boothe

Brigitte Boothe ist klinische Psychologin und Psychotherapeutin. Bis 2013 hat sie an der Universität Zürich gelehrt. Heute ist sie als Therapeutin und Coach tätig. Gemeinsam mit dem Jesuiten Eckhard Frick hat sie das Buch «Spiritual Care. Über das Leben und Sterben» (Orell Füssli 2017) verfasst.

Spiritual Care

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Spiritual Care meint die spirituelle Begleitung von Kranken und Sterbenden und von Menschen in Krisensituationen. Träume, Visionen und symbolische Bilder in Todesnähe spielen dabei eine wichtige Rolle. Spiritual Care stützt sich auf Erkenntnisse aus Medizin, Psychotherapie und Theologie.

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