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Gesellschaft & Religion Menschenschmuggel: Das Grosse Geschäft mit der grossen Hoffnung

Bei den Flüchtlingsdramen im Mittelmeer stehen oft die Schicksale der Flüchtlinge im Fokus. Das Buch eines Fotografen und eines Kriminologen wechselt die Perspektive. Es widmet sich den Menschenhändlern – und zeigt, welch kuriose Methoden sie sich einfallen lassen, damit das dubiose Geschäft läuft.

Auf den Kerkenna-Inseln vor der Küste Tunesiens beginnt die grösste Geschäftigkeit, wenn der Tag zu Ende geht. Die Schlepper und ihre Helfer legen sich ins Zeug: Asylsuchende und Wirtschaftsflüchtlinge, die nach Europa auswandern wollen, werden aus ihren Verstecken geholt.

Zum Beispiel von Emir, der seit 35 Jahren mit seinem Fischkutter aufs Meer hinausfährt und mittlerweile mit Menschenschmuggel den Unterhalt für sich und seine sechs Kinder verdient: An die tausend Flüchtlinge hat er in den letzten Jahren nach Lampedusa gebracht, die dafür pro Person jeweils mehrere tausend Euro hingeblättert haben – für Emir ein Millionengeschäft.

Verkaufsagenten auf dem Festland

Emir ist denn auch ein Knotenpunkt eines Schleusernetzes. Auf dem tunesischen Festland hat er ein paar «Verkaufsagenten». Diese akquirieren «Kunden» und bringen sie auf die Kerkenna-Inseln: Tunesier, Algerier und junge Männer aus dem Tschad, die in Europa Sicherheit und Arbeit suchen.

Sie warten – in alten und leerstehenden Häusern versteckt – auf die Überfahrt. Ein Helfer von Emir verkauft ihnen Wasser und Essen. Ein anderer zieht das Geld für die Reise ein. Ein Dritter sorgt bewaffnet für Ruhe und Ordnung. Das ist der Moment, in dem Fischer Emir in die Rolle des Kapitäns schlüpft.

Buchhinweis

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Andrea Di Nicola und Giampaolo Musumeci: «Bekenntnisse eines Menschenhändlers. Das Milliardengeschäft mit den Flüchtlingen». Verlag Antje Kunstmann, 2015.

Ortskenntnisse und Wanderführer gefragt

Der Kriminologe Andrea Di Nicola beschreibt eine Branche, die stark arbeitsteilig organisiert ist und Spezialisten braucht. So müssen sich die Helfer vor Ort sehr gut auskennen: Wer Menschen über die grüne Grenze zwischen Slowenien und Italien führt, muss in der unwegsamen Karstlandschaft auch nachts und bei jeder Witterung die Führung übernehmen. Er muss die Sprache der Zöllner sprechen, ihre Dienstpläne kennen und wissen, wann und wo sie ihren Kaffee trinken.

In Alufolie gewickelt über den Ärmelkanal

Wer Flüchtlinge auf Autobahn-Rastplätzen in den Laderaum eines Lastwagen versteckt, während der Fahrer schläft, muss sich etwas einfallen lassen. Denn der Thermoscanner am Grenzübergang entdeckt geschmuggelte Menschen aufgrund ihrer Körpertemperatur von 37 Grad.

Die Flüchtlinge werden deshalb in Calais in Küchen-Alufolie eingewickelt oder verbringen die Fahrt durch den Tunnel des Ärmelkanals in einem Schlafsack voller Eiswürfel, bis sie den Zoll in Dover passiert haben.

Selbsternannte Kapitäne und druckreife Drehbücher

Andrea Di Nicola nimmt die Leserinnen und Leser auf viele Umschlagplätze des Menschenschmuggels mit, auch nach Istanbul: Von hier aus treten Menschen aus Bürgerkriegsländern wie Syrien ihre Flucht nach Europa an. Kostenpunkt: 5000 bis 7000 Dollar. Sie übernachten auf Betonböden in Lagerhallen und werden in Minibussen nach Ismir gebracht. Hier treten Schlepper als selbsternannte Kapitäne auf und mieten mit falschen Papieren Luxusjachten.

Wer in der Ägäis unbehelligt bleiben will, fährt unter US-amerikanischer Flagge. Die Flüchtlinge werden auch schon mal als Luxustouristen getarnt, entsprechend eingekleidet und nach einem ausgeklügelten Drehbuch auf Deck als Urlauber inszeniert, die ein Sonnenbad nehmen oder bei der Einfahrt in den Hafen als fröhliche Runde beim Kartenspiel in Szene gesetzt werden.

Agile Spezialisten

Aus den leichtfüssig geschriebenen Reportagen «Bekenntnissen eines Menschenhändlers» geht hervor, dass es sich beim Menschenschmuggel nach Europa um ein professionelles Netzwerk einer stark arbeitsteiligen Branche handelt, die schnell und flexibel reagiert, wenn es auf der Route Probleme gibt oder wenn sich plötzlich Schlupflöcher schliessen.

Der grösste Teil dieses Geschäfts wird in wirtschaftlichen Strukturen abgewickelt, die legal sind, als «Nebengeschäft» in einem offiziellen Reisebüro oder Juweliergeschäft, wo das Geld der Flüchtlinge im Tresor deponiert wird, bis diese angekommen sind. Dann zahlen die Schlepper sich selbst und ihre Helfer aus, machen das grosse Geld, während auf Seiten der Angekommen manch eine grosse Hoffnung zerschellt.

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