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Gesellschaft & Religion Mit Gewalt zurückschlagen? Der IS stellt Christen vor ein Dilemma

Via Youtube in unsere Stuben: Milizen der Terrororganisation Islamischer Staat metzeln Jesiden, Christen und Muslime nieder. Gewichtige kirchliche Stimmen unterstützen jetzt Waffenlieferungen. Sie ernten dafür Kritik von Friedensorganisationen. Auch in der Schweiz.

Das «Eingeständnis der Ohnmacht» ist nichts als ehrlich. Formuliert wurde es vor einigen Tagen an einer ökumenischen Feier in Bern. Marodierende IS-Milizen ziehen derzeit durch Syrien und Irak, um Jesiden, Christen, Muslime und «Ungläubige» mit roher Brutalität hinzurichten. Diese unsägliche Gewalt lässt uns alle erstarren.

Waffenlieferungen oder Schutztruppe?

Es war Bischof Markus Büchel, der Mitte August das Tabu in der Schweiz gebrochen hat: In einem Interview auf SRF1 sagte er, man könne sich Waffenlieferungen vorstellen, wenn sie dem Schutz der Menschen dienten. Zuerst müssten aber alle Möglichkeiten der Versöhnungsarbeit ausgeschöpft werden. Wenn das mit den IS-Kämpfern nicht möglich sei, «dann wird die Sprache der Waffen die letzte Möglichkeit sein».

Video
Markus Büchels Vorschlag zum Vorgehen gegen die IS
Aus 10 vor 10 vom 14.08.2014.
abspielen. Laufzeit 59 Sekunden.

Frieden schaffen ohne Waffen – auf dem wohlklingenden Slogan liegen die Schatten von Ruanda und Srebrenica. Sollte eine internationale Schutztruppe nicht entschiedener, früher, massiver eingreifen? Wann ist der Moment, wo auch radikale Pazifisten das Gebot der Gewaltlosigkeit relativieren?

Versagen des UNO-Sicherheitsrates

Bischof Büchels Aussage löst Unterstützung, aber auch Widerstand aus. Strikt gegen Waffenlieferungen stellt sich der Schweizerische Friedensrat, schon seit seiner Gründung 1945. Dessen Präsident Ruedi Tobler erinnert auf Anfrage daran, dass Waffenlieferungen stets kontraproduktiv seien. Auch die IS gelange auf diese Weise zu ihren Waffen.

«Bombardierungen und Waffenlieferungen sind Alibiübungen. Stattdessen müsste der UNO-Sicherheitsrat seine Verantwortung wahrnehmen.» Tobler kritisiert das grundlegende Versagen des Sicherheitsrates und der darin vertretenen Länder. Es gibt aber, relativiert er, Situationen, wo bewaffnetes Eingreifen sinnvoll sei. Aber nur im Rahmen der UNO, zum Beispiel in Form einer UN-Schutztruppe.

Militäroperationen sind selten erfolgreich

Diskussionen über Waffenlieferungen und militärisches Eingreifen seien nicht friedensfördernd, sagt eine Sprecherin des Christlichen Friedensdienstes auf Anfrage. Der Dienst engagiert sich in der feministischen Friedenspolitik und leistet unter anderem im Nahen Osten Basisarbeit zur Friedensförderung. Die Militäroperationen in Bosnien, Irak und Afghanistan hätten gezeigt, dass militärische Einsätze nichts zu einem dauerhaften Frieden beitragen könnten.

Ganz auf die Nachfolge Jesu beruft man sich auf freikirchlicher Seite. Wilf Gasser, Präsident der Schweizerischen Evangelischen Allianz in «20 Minuten Online»: «Wir orientieren uns an den Werten, die er uns vorgelebt hat. Er hat auf Gewalt nicht mit Gegengewalt reagiert, weshalb die meisten unter uns eine pazifistische Haltung vertreten.»

«Schutzverantwortung» als zentraler Begriff

Auch Papst Franziskus ringt mit einer Antwort auf die Frage, wie man in der aktuellen Situation den gefährdeten Menschen helfen kann. Auf dem Rückflug von Seoul nach Rom erklärte er, es sei legitim, einen «ungerechten Aggressor» aufzuhalten: «Ich benutze bewusst das Wort ‹stoppen›, ich spreche nicht von ‹bombardieren› oder ‹Krieg führen›.»

Die Aussagen des Pontifex widerspiegeln das moralische Dilemma, in dem die christliche Welt derzeit steckt. Denn unter den Verfolgten befinden sich neben Jesiden und Muslimen zahlreiche Christen. Der zentrale Begriff, der von der UNO entwickelt wurde, heisst «Schutzverantwortung» (Responsibility to Protect, kurz R2P). Das Handlungsprinzip ist in die katholische Soziallehre eingegangen und könnte heute das christliche Gebot der Gewaltlosigkeit ein kleines bisschen relativieren.

Nicht frei von Schuld

In Deutschland läuft die Debatte heftiger – deutsche Soldaten stehen in Afghanistan und im Kosovo, vielleicht irgendwann in Syrien oder im Irak. Beide grossen Kirchen haben ihre Militärseelsorger hingeschickt. Was sagen sie den Soldaten im Einsatz? Für Wolfgang Huber, Ethiker und ehemaliger Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche Deutschland, eine schwierige Situation. Gegenüber der «Zeit» schildert er, was er den Soldaten rät: «Ein gutes Gewissen kann ich dir nicht machen, aber ein getröstetes Gewissen. Wenn du tötest, bleibst du nicht frei von Schuld, aber wenn du Menschenleben rettest, tust du dennoch, was in deiner Kraft steht. Wenn du das willst, ermutige ich dich.»

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