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Gesellschaft & Religion Mobile Therapeuten versuchen Jugendliche vor dem Heim zu bewahren

«Schwere Störungen des Sozialverhaltens» – bislang taten sich Sozialdienste und Psychologen schwer, Jugendlichen mit dieser Diagnose qualifiziert zu helfen. Aus den USA wird nun mit der «Multisystemischen Therapie» (MST) eine nachweislich erfolgreiche Methode in die Schweiz importiert.

Von Gewaltausbrüchen in einer Familie ist die Rede, von Schlichtungsversuchen, von erfolgreichen Einsätzen – auch in der Nacht. Während Matthias Baumann von seinen letzten Notrufen erzählt, ist er schon wieder unterwegs, irgendwo im Kanton Aargau. Das Auto des mobilen Psychotherapeuten ist sein zweites Büro. Jedenfalls war er in den letzten Monaten öfter im Auto erreichbar als in der Badener Zentrale seiner Psycho-Taskforce.

Keine Couch, kein Therapeutensessel

Matthias Baumann ist Mitglied im Badener «MST-Team» des Kantons Aargau. MST steht für «Multisystemische Therapie», ein aus den USA importiertes Konzept für den Einsatz bei «sozial schwer gestörten» und mitunter auch delinquenten Jugendlichen. Das Konzept soll die gefährdeten 12- bis 17-Jährigen vor den üblichen Heim-, Psychiatrie- und Knastkarrieren bewahren – also vor jedweder «Fremdplatzierung».

3 Frauen und 3 Männer an einem Tisch sitzend, konzentriert miteinander sprechend.
Legende: Die Mehrheit ist nicht im klassischen Psychotherapeuten-Alter: eine MST-Teamsitzung in Baden. SRF / Detlef Berentzen

Die Strategie der MST ist besonders: keine Analytikercouch, kein Therapeutensessel. MST ist eine «aufsuchende» Therapie, und mehr noch: Das Therapeutenteam steht im Notdienst für seine Klienten rund um die Uhr zur Verfügung, an sieben Tagen die Woche, während drei bis fünf Monaten. Ob es um Drogenkonsum, Gewalt oder Sprachlosigkeit in Familien geht, die MST-Therapeuten betreuen ihre Klienten mit höchster Intensität.

Junge, motivierte Teams

Matthias Baumann ist Mitte dreissig und daher bestens für die Task-Force geeignet. Mögen Supervisoren, Fortbildner und Teamleiter in Sachen MST mitunter auch ein wenig älter sein, die ständige Mobilität in der Region fordert ein junges, belastbares und mehrköpfiges Team. Und die Bereitschaft, mit all jenen «Systemen» zu arbeiten, die den Alltag der Jugendlichen definieren: Familie, Schule, Freunde, Peer Group, Nachbarn und Gemeinde.

Das MST-Konzept ist seit 2007 eine Option in der Schweiz: Initiiert vom Kinder- und jugendpsychiatrischen Dienst rund um den Weinfeldener Chefarzt Bruno Rhiner wurde MST zunächst im Thurgau praktiziert, später dann auch von Teams im Aargau, in Basel-Land und Basel Stadt. Inzwischen äussern auch andere Schweizer Regionen reges Interesse, selbst deutsche MST-Initiativen beginnen sich am Vorbild der Schweiz zu orientieren. Was daran liegen mag, dass auch die Erfolgsquoten der Multisystemischen Therapie besonders sind.

Die meisten werden nicht rückfällig

Jahrzehntelange Evaluationen der «MST-Services» in den USA berichten von 80 Prozent der Jugendlichen, die nach einer Intervention nicht wieder rückfällig werden. Die also dauerhaft zu Hause wohnen, regelmässig zur Schule gehen und auch langfristig drogenfrei sind. Nach neuesten Erhebungen gilt das auch für die Schweiz: Über 80 Prozent der vor Jahrzehnten noch als «verwahrlost» und «schwererziehbar» denunzierten Jugendlichen haben mit Hilfe der MST nachweislich eine mehr oder weniger stabile Existenz entwickelt.

Eine Tatsache, die Matthias Baumann wie auch seine Kollegen extrem motiviert: «Wofür sonst arbeiten wir, wenn nicht für solche Erfolge?» Die Erfolge sprechen sich auch bei Eltern und in Schulen herum: Die Anfragen für Aufnahmegespräche ins MST-Programm werden immer zahlreicher.

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