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Nähe zum Nachbarn «Je enger Menschen wohnen, desto mehr gehen sie auf Distanz»

Wie beeinflussen Nachbarn unser Leben? Diese Frage erforscht der deutsche Soziologe Sebastian Kurtenbach – und zog dafür in ein Hochhausquartier.

SRF: Was ist eigentlich ein Nachbar, eine Nachbarin?

Sebastian Kurtenbach: Das Wort «Nachbar» stammt aus dem Mittelhochdeutschen: Der Nachbar ist der nahe Bauer. Also derjenige, der nahe an einem dran gewohnt hat. Man hat sich in der Not geholfen, aber auch bei der gegenseitigen Ernte. Mit der Industrialisierung hat sich Nachbarschaft jedoch stark verändert. Auf einmal fielen Wohnen und Arbeiten auseinander.

Zur Person

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Sebastian Kurtenbach, geb. 1987 in Köln, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) der Universität Bielefeld. Der Soziologe erforscht u.a. Formen des städtischen Zusammenlebens.

Der Nachbar, der einem hilft, dem man aber auch hilft – ist das die Definition von Nachbarschaft?

Eine Definition zu finden ist schwierig, weil Nachbarschaft etwas Räumliches und Soziales meint. Nachbarschaft kann ein Stadtteil sein. Nachbarschaft ist aber auch ein soziales Verhältnis: Man grüsst sich auf dem Treppenflur, man hilft sich aus.

Zu Forschungszwecken sind Sie für drei Monate nach Köln-Chorweiler gezogen. Eine Hochhaussiedlung, ein sozialer Brennpunkt – viele Menschen dort sind Sozialhilfebezüger. Warum haben Sie dieses Experiment gemacht?

Ich glaube, dass wir unsere Gesellschaft mehr verstehen, wenn wir als Stadtforscher uns in die Orte, die wir erforschen, hineinbegeben. Bei Köln-Chorweiler hat mich interessiert, wie Benachteiligung eines Stadtteils im Alltag funktioniert.

Ich habe nicht offensiv versucht, mit den Menschen ins Gespräch zu kommen. Mehr als ein Schwatz auf dem Flur war nicht gewünscht.

Wir wissen aus Studien, dass es einen Effekt hat, in welchem Stadtteil man lebt oder aufwächst. Was aber genau passiert in der Nachbarschaft, damit es zu einer Benachteiligung kommt, ist völlig unklar. Um das herauszufinden, bin ich dorthin gezogen.

Sie sind also selber zum Nachbarn geworden. Wie haben Sie gewohnt?

Im fünften Stock eines zehnstöckigen Hochhauses. Ich habe nicht offensiv versucht, mit den Menschen ins Gespräch zu kommen. Doch ich war die ganze Zeit im Stadtteil unterwegs und habe so meine Nachbarn kennengelernt. Mehr als ein Schwatz auf dem Flur war jedoch nicht gewünscht.

Weil Sie ein Fremdkörper waren?

Weil dort ganz viele Menschen auf engem Raum wohnen. Und je enger Menschen zusammenwohnen, desto mehr versuchen sie, Distanz zueinander zu schaffen. Das ist ein globales Phänomen. Man möchte nicht, dass der Nachbar einem in den Kochtopf schaut. Und diese Distanz wird nur selektiv aufgebrochen. Unter Verwandten zum Beispiel, die im gleichen Stadtteil wohnen.

Die Front einer Wohnsiedlung in Köln-Chorweiler.
Legende: Nah an einer besonderen Nachbarschaft: Sebastian Kurtenbach wohnte zwei Monate in einer Siedlung in Köln-Chorweiler. Imago / Horst Galuschka

Lebt man also in einem solchen Hochhaus anonym?

Man kann, wenn man dies möchte. Es gibt schon Nachbarschaftstreffs und Ähnliches. Doch wenn man von Armut betroffen ist, hat man einfach andere Sorgen. Und zwar nicht nur wegen des Einkommens.

Wenn ein Kind im Haushalt ist, dann ist die Vernetzung im Stadtteil grösser.

Wenn man das Gefühl hat, abgehängt zu sein, nicht mehr dazu zu gehören, dann besteht die Gefahr, dass man sich aus den gesellschaftlichen Bezügen herauslöst. Auch aus der Nachbarschaft.

Verhalten sich die einzelnen Altersgruppen in diesem Gefüge verschieden?

Ja, Kinder zum Beispiel holen sich auch in Köln-Chorweiler in den Blöcken gegenseitig ab, um zusammen zu spielen. Dadurch haben die Familien untereinander Kontakt. Wenn ein Kind im Haushalt ist, dann ist die Vernetzung im Stadtteil grösser: Man kennt seine Nachbarn.

Das gilt doch auch für Quartiere mit Einfamilienhäusern: Über Kinder entsteht viel nachbarschaftlicher Kontakt.

Ja, über Kinder – und über lange Wohndauer. Und auch Notlagen sind ein Katalysator nachbarschaftlicher Beziehungen. Wer bei einem Hochwasser zusammen anpackt, bleibt danach im Gespräch.

Nachbarschafts-Streit kommt vor allem in Einfamilienhäusern mit Garten relativ häufig vor – weil es mehr Konfliktanlässe gibt.

In Hochhaussiedlungen sucht man die Distanz. Und in Einfamilienhaus-Quartieren? Sucht man da die Nähe?

Geforscht wird weltweit vor allem in Armutsquartieren. Von Villenviertel wissen wir dementsprechend wenig. Eine Umfrage des WDR zeigt, dass Nachbarschafts-Streit vor allem in Einfamilienhäusern mit Garten relativ häufig vorkommt, weil es mehr Konfliktanlässe gibt. Aber es zeigt sich auch: Wenn man Wege findet, die Konflikte auszutragen, fühlt man sich wohler.

Wann gibt es am meisten Konfliktpotenzial?

Vor allem Gärten und das parkierte Auto des Nachbarn vor der Türe sind typische Konfliktanlässe. Wir wissen jedoch auch, je ähnlicher sich Menschen sind, desto eher schaffen sie es Wege zu finden, um Konflikte beizulegen.

Eine Volksweisheit besagt: Wohne nie mit deinen Freunden zusammen, sonst gibt es Konflikte. Warum eigentlich?

Freunde kann man sich ein Stück weit aussuchen, Nachbarn nicht. Aus Nachbarn können natürlich Freunde werden. Freundschaften sind immer temporär selektiv. Das heisst: Man verbringt einen Nachmittag, einen Urlaub, oder sonst eine begrenzte Zeit mit seinen Freunden.

Ein guter Nachbar zu sein ist jeden Tag eine neue Herausforderung.

Nachbarn jedoch sind immer da. Wenn man das Gefühl hat, da ist die nachbarschaftliche Distanz nicht mehr gewahrt, kann das zu Konflikten führen.

Gibt es überhaupt «den guten Nachbarn»?

Leider nicht, ebenso wenig wie es «den guten Menschen» gibt. Wir können uns immer nur bemühen, ein gepflegtes Miteinander zu haben. Ein guter Nachbar zu sein ist jeden Tag eine neue Herausforderung.

Das Gespräch führte Noëmi Gradwohl.

Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 9.1.2018, 9.03 Uhr

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