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Gesellschaft & Religion «Ohne Meditation wäre ich heute wohl tot»

Mindfulness-Meditation ist im Trend. Die Achtsamkeits-Meditation verspricht weniger Stress, bessere Konzentration und eine höhere Leistungsfähigkeit. Jon Kabat-Zinn hat vor 36 Jahren Meditation in die Stube der Wissenschaft gebracht. Heute lehrt er weltweit. Meditation hat ihm das Leben gerettet.

Ganz ehrlich: Viele Momente der Stille und des Gewahrsein meiner Selbst erlebe ich auf dem WC oder unter der Dusche. Ist es naiv zu behaupten, dass das Badezimmer ein Meditationsort ist?

Zur Person

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Jon Kabat-Zinn begann als 21-Jähriger mit Zen-Meditation. Daraus entwickelte er 1979 die Praxis von Mindfulness-based stress reduktion (MBSR). Als Begründer des Centre for Mindfulness in Medicine, Health Care, and Society erforschte er Meditation wissenschaftlich. Heute lehrt er weltweit.

Jon Kabat-Zinn: Sie werden lachen, ich habe tatsächlich eine Duschmeditation! Gerade denjenigen Leute, die meinen, keine Zeit zum Meditieren zu haben, sage ich: «Das nächste Mal, wenn ihr unter der Dusche steht, werdet euch bewusst, ob ihr wirklich in der Dusche steht. Vielleicht seid ihr in Gedanken am nächsten Meeting oder die Leute des Meetings stehen mit euch in der Dusche.» Die Gedanken und Emotionen schweifen ab, anstatt das Wasser auf dem Körper zu spüren und den Moment des Duschens bewusst zu erleben.

Im Englischen sagt man für Toilette ja auch «Restroom» und bezeichnet schon mit dem Wortsinn einen Raum der Ruhe oder Entspannung.

Stimmt, das habe ich mir so noch nie überlegt (lacht). Aber es kommt natürlich ganz darauf an, wie Sie zu diesem Raum in Beziehung stehen. Wenn Sie die Zeitung auf der Toilette lesen, ist es kein Moment der Entspannung. Aber wenn Sie einfach präsent sind, wenn das die einzige Zeit am Tag ist, in der Sie präsent sein können, dann wäre das Badezimmer vielleicht einer der meditativsten Räume eines Hauses. Aber leider glaube ich, dass viele Leute auf dem WC eine SMS schreiben, Mails checken oder die News lesen. Dann ist es kein meditativer Moment, weil die Leute der Technologie verfallen.

Warum schenken wir Kommunikationstechnologien eine so grosse Aufmerksamkeit?

Mindfulness

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Oft mit dem deutschen Wort Achtsamkeit übersetzt, bedeutet Mindfulness Gewahrsein des Jetzt. Die Qualität davon ist ein stilles und urteilfreies Wahrnehmen der Gedanken und Gefühle im Moment. Praktiziert wird Achtsamkeit durch formelle Meditation oder formlose Praxis.

Weil die Menschen nicht wissen, was sie mit sich anfangen sollen, wenn sie nichts zu tun haben. Wir füllen alle freien Momente unseres Lebens auf, zum Beispiel wenn wir Zug fahren. Das Leben findet aber im bewussten Jetzt statt, in völliger Präsenz des Geistes, unseres Herzens und unserer Emotionen. Wir lenken uns mit anderen Dingen ab, anstatt an unserer Achtsamkeit zu arbeiten und wirklich zu leben.

Gleichzeitig scheint Mindfulness-Meditation in der westlichen Welt sehr populär zu sein. Welche Motivation steckt Ihrer Meinung nach dahinter?

Ich glaube, die Grundmotivation ist Hunger nach einem authentischen Leben, um das gesamte Spektrum des menschlichen Seins zu erfahren. Diesen Hunger können wir weder mit einem iPad, noch mit einem neuen Ferienhaus oder mit einer weiteren Liebesbeziehung stillen.

In Europa wird Zen-Meditation oft mit Spiritualität in Verbindung gebracht. Sie hingegen verstehen die Praxis von Mindfulness ohne jegliche spirituelle Dimension.

Jetzt online

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In der «Sternstunde Philosophie» spricht Barbara Bleisch mit dem buddhistischen Mönch und studierten Molekularbiologen Matthieu Ricard. Das Gespräch ist hier online.

Ich mag das Wort «spirituell» nicht. Alle meinen damit etwas anderes und denken, ihre Spiritualität sei besser als die der anderen. Darum finde ich es ein nicht sehr hilfreiches Konzept. Eine profane Situation kann tiefgreifend spirituell sein, je nach dem wie sie wahrgenommen wird.

Wenn Sie zum Beispiel ein Kind bekommen: Ist das eine spirituelle Erfahrung oder eine ganz normale wie Kopfweh? Es ist eine Frage der Beziehung – und genau das ist Mindfulness: Sich klar werden, welche Beziehung zum eigenen Geist, zum Herz, zum Atem, zu den Gedanken und Gefühlen, zu Schmerz und Liebe besteht.

Ich realisiere gerade in diesem Gespräch mit Ihnen, dass ich ohne Meditation heute wohl tot wäre. Ich war als junger Mann sehr wild und hatte selbstzerstörerische Tendenzen. Wortwörtlich hat mir das Meditieren das Leben gerettet, weil ich zum Beispiel das Motorradfahren aufgab, bevor ich einen schlimmen Unfall hatte. Vor allem aber habe ich durch das Meditieren eine grössere Perspektive auf das Leben erhalten und erkannt, dass es lebenswert ist.

Wie kam es dazu?

Nach meiner Dissertation in der Mikrobiologie wollte ich einen Job finden, der mich befriedigte. Mich interessierte weniger die Wissenschaft, sondern vor allem das Leben. Ich wollte das menschliche Bewusstsein verstehen. Deshalb stellte ich mir die Frage, welche Arbeit ich dermassen gerne machen würde, dass ich sogar dafür bezahlen würde.

Buchhinweise

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Jon Kabat-Zinn: «Achtsamkeit für Anfänger», Arbor Verlag, 2013.

Jon Kabat-Zinn: «Gesund durch Meditation», Fischer Verlag, 2006.

Normalerweise ist es ja genau umgekehrt: Man fragt sich, mit welchem Job man wie viel Geld verdient. Natürlich, ich war damals jung genug, um so frei denken zu können und musste auch keine Familie ernähren. Ich meditierte lange über dieser Frage und merkte, dass es diesen Job gar nicht gab. Also schuf ich ihn selber und herausgekommen ist das, was heute als MBSR bekannt ist. Vor 36 Jahren habe ich die Mindfulness-Meditation ans MIT (Massachussets Institute of Technology) gebracht. Mittlerweile hat sie Einzug in die medizinische Forschung und in den Alltag von Krankenhäusern gefunden, wird im Rahmen von Psychotherapie, in der Wirtschaft oder in der Politik angewendet.

Trotz wissenschaftlicher Evidenz und medizinischem Wert ist bei der Meditation eine bestimmte Frage von zentraler Bedeutung, nämlich «Wer bin ich?». Darf ich fragen, wer sind Sie?

Ich habe keine Ahnung (lacht).

Gar keine, obwohl Sie seit 50 Jahren meditieren?

Nun, ich habe Millionen von Ideen, aber keine ist wahr. Wenn Sie wissen wollen, wer ich bin, müssen Sie mit mir Zeit verbringen und sehen, wie ich in Beziehung zu meinem Leben und der Welt stehe. Aber ich sage Ihnen eins: Ich bin nicht der, der ich denke zu sein. Und ich denke niemand ist diese Person, die sie denkt zu sein.

Der Punkt ist, dass wir viel grösser sind als die Geschichten, die uns beschreiben. Sie schränken uns viel eher ein: Wenn wir ihnen im Negativen glauben, werden wir depressiv. Wenn wir ihnen im positiven Sinn glauben, werden wir arrogant und selbstverliebt.

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