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Gesellschaft & Religion Raphael Fellmer lebt von dem, was andere übrig lassen

Ob Billigflug oder Kleiderschnäppchen – attraktive Angebote gibt es zuhauf. Der Berliner Autor und Familienvater Raphael Fellmer jedoch sagte sich eines Tages: «In Zukunft ohne mich!». Fünf Jahre lebte er ohne Geld. Heute verzichtet er auf jegliche Art von Konsum.

HörPunkt: Anders

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Menschen, die anders sind oder anders leben, sind für jede Gesellschaft eine Herausforderung. Im HörPunkt vom 2. Mai 2016 porträtierte Radio SRF2 Kultur fünf Menschen, die zum Teil ihr Anderssein selbst gewählt haben, zum Teil aber gar nicht anders können, als «anders» zu sein.

«Klar bin ich ein Schmarotzer», gibt Raphael Fellmer freimütig zu, «aber sind wir nicht alle Schmarotzer?». Was er damit meint: Leben wir nicht alle auf viel zu grossem Fuss, nutzen mehr Energie, verbrauchen mehr von der Umwelt, als uns eigentlich zusteht? Der 32-Jährige achtet mit seiner Lebensweise zumindest darauf, dass sein ökologischer Fussabdruck nicht noch grösser wird. Deshalb lebt er von dem, was andere übrig lassen: an Nahrung, an Wohnraum, an Transportkapazitäten.

Alles im Überfluss vorhanden

Fünf Jahre lang nahm Raphael Fellmer kein Geld in die Hand, bezahlte für nichts mehr, nahm nur noch gratis entgegen oder organisierte sich Dinge sonst irgendwie. Und siehe da: Es fehlte ihm an nichts. Denn alles ist im Überfluss vorhanden.

Essen findet sich in den Abfallcontainern der Supermärkte – weltweit wird ein Drittel aller hergestellten Nahrungsmittel regelmässig weggeworfen. Auch leere Zimmer gibt es zuhauf. Jedenfalls so viele, wie es nette Menschen gibt. Raphael Fellmer reiste nur noch per Anhalter, sogar mit dem Segelschiff über den Atlantik. An Kleider kam er durch Kleidersammelstellen, sie quellen über. Die Kleiderüberproduktion ist Teil unseres Wirtschaftssystems.

Ein junger Mann und eine ältere Frau stehen vor einem offenen Kühlschrank, der vor einem Supermarkt platziert ist.
Legende: Mit foodsharing.de setzt sich Fellmer heute legal und koordiniert gegen die Lebensmittelverschwendung ein. Reuters

Teilen als Lebensgefühl

Inzwischen muss Fellmer nicht mehr nachts und illegal in Mülltonnen tauchen – Foodsharing.de sei dank. Das Netzwerk sorgt dafür, dass überschüssige Lebensmittel bei Kooperationsbetrieben abgehohlt, verteilt und so vor der Mülltonne bewahrt werden. Foodsharing ist angesagt. Mehr als 15'000 «Foodsaver» engagieren sich ehrenamtlich über diese Onlineplattform – und profitieren davon.

Buchhinweis

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Raphael Fellmer: «Glücklich ohne Geld». Redline Verlag, 2013. Kostenloser Download hier.

Daran ist Fellmer nicht ganz unschuldig. Vor vier Jahren gründete er die «Lebensmittelretten-Bewegung», die mittlerweile mit foodsharing.de fusionierte. Zurzeit baut er zusammen mit anderen europäischen Aktivisten die Plattform yunity.org auf. Ziel ist es, Gemeinschaften zu schaffen, in denen Menschen freiwillig ihre Zeit, ihre Fähigkeiten und ihre Ressourcen teilen.

Undogmatisch, aber konsequent

Raphael Fellmer wurde in kurzer Zeit zum Medienliebling – kein Wunder. Seine Zuversicht, dass man, wenn viele mittun, wirklich etwas verändern kann, berührt die Menschen. Studien bestätigen: Es braucht keine Mehrheiten, um Trends zu setzen. Was es braucht, sind mediale Präsenz und ein positives Lebensgefühl, das sich auf andere überträgt.

Fellmer verkörpert beides. Er ist ein Macher mit Ausstrahlung, undogmatisch, aber konsequent. Dass er vegan lebt, versteht sich von selbst: kein Fleisch und damit auch kein exzessiver Wasserverbrauch zur Herstellung von viel zu billigem Protein, kein Methan-Ausstoss, kein Tierleid.

Ein Mann sitzt am Tisch, auf seiner Schoss sitzt seine Tocheter, links steht eine Frau, die Essen in einen Teller schöpft.
Legende: Familie Fellmer brauchte eine feste Wohnung, darum gab sie den radikalen Geldstreik auf (Bild: Fellmer mit Alma Lucia). Reuters

Frage mit Widerhaken

Mit seiner Partnerin und den zwei Kindern hat Fellmer mittlerweile zwar vom radikalen Geldstreik zum etwas milderen Konsumstreik gefunden. Wer für eine Familie Verantwortung übernimmt, muss zwangsläufig Kompromisse eingehen. Stur sein führe zu nichts, sagt er. Dennoch fragt er sich vor jeder Reise, jedem Kauf: Geht’s nicht auch anders? Eine kleine Frage mit Widerhaken.

Ein neues Wort noch lässt er dem Interviewer zurück: wuppen. Das heisst so viel wie: etwas bewerkstelligen. Der Ursprung des Wortes liegt im Dunkeln. Klar ist nur, dass es zunehmend beliebter wird unter jungen Menschen in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Auf sogenannten WuppDays wie unlängst in Holland wird fleissig gewuppt, sprich: Es werden Kräfte zusammengeführt, freiwillige Macher und Denker vernetzt. Nicht zuletzt, um den Traum einer weltumspannenden Kultur des Teilens voranzutreiben. Wirklich erfolgreiche Schmarotzer zerstören den Wirt auch nicht, von dem sie leben.

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