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Gesellschaft & Religion Schweige, wenn du nichts zu sagen hast

15 Milliarden Tweets innerhalb von vier Tagen: Die Anschläge in Boston und die anschliessende Verfolgungsjagd der mutmasslichen Täter lösten in den Sozialen Medien einen gewaltigen Sturm aus. Dies zeigt vor allem eines: Der Journalismus muss sich neu erfinden.

Das Bild spricht Bände: In der einen Hand halten die CNN-Journalisten ihre Mikrofone, in der anderen ihre iPhones. Die vollständige Aufmerksamkeit richtet sich auf den kleinen Bildschirm in ihren Fingern. Von dort erhalten Sie die neusten Informationen, welche die gestandenen Journalisten ungeprüft in die Kameras erzählen.

Das Bild spricht nicht nur Bände, es ist auch ein Sinnbild für den Wandel im Breaking News-Geschäft des Journalismus: Denn die Journalisten «besitzen» nicht länger eine Nachricht. Laut einer Umfrage hörte ein Drittel der Amerikaner innert einer halben Stunde von den Anschlägen in Boston. Plötzlich wissen viele Nutzer mehr als der einzelne Journalist. Dieser wiederum verliert seine bisherige Deutungshoheit und muss seine Aufgabe neu definieren.

Internet-Mechanismen im Fernsehen

Schnelligkeit und Exklusivität haben in Breaking News-Situationen ausgedient. Das zeigte sich deutlich an der Verlockung, Internet-Mechanismen auf angestammte Fernsehroutinen zu übertragen. Aus diesem Grund entstanden in der Hitze des Gefechts Fehler: sowohl bei CNN als auch bei anderen Medien.

Es ist nicht weiter erstaunlich, dass sich noch immer eine Mehrheit der Amerikaner via Fernsehen informiert. Jedoch nimmt diese Zahl bei jüngeren Personen stetig ab. Bei den unter 30jährigen hat der Trend bereits gekehrt: Sieben von zehn Jugendlichen verfolgten die Ereignisse in Boston im Internet und nicht vor dem Fernseher.

Journalisten haben Informationsmonopol verloren

Das bedeutet, dass Nutzer mit ihrer eigenen Geschichte an die journalistische Berichterstattung herantreten. Gefragt sind in solch unübersichtlichen Situationen Einordnung, Authentizität und Verifikation. Nur indem sich die Journalisten auf ihr Publikum einlassen und mit diesem interagieren, gelangen sie an neue Informationen.

Daraus resultiert die Erkenntnis, dass Journalisten nicht mehr über das Monopol an Wörtern, Bildern und Geschichten verfügen. Doch in Zeiten, in welchen jede und jeder mit seinem Smartphone zum Leserreporter werden kann, greift diese Einsicht schlicht zu kurz. Vielmehr geht es um den Einbezug und die Selektion dieser Informationen und um die Ordnung dieser Flut.

Audio
Der Twittersturm und die Medien in Boston
aus Kultur kompakt vom 22.04.2013.
abspielen. Laufzeit 6 Minuten 15 Sekunden.

In vielen Artikeln zum Thema wird nun ein Umdenken bei den Journalisten gefordert. Die Devise lautet: «Sprich nicht, es sei denn, du kannst die Stille verbessern.» Ob die newsgetriebenen Journalisten allerdings auf diese hehren Forderungen hören, wird sich weisen. Die nächste Breaking News kommt bestimmt.

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