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Gesellschaft & Religion Von der Brust ins Glas: Menschen und Milch

Noch vor 5000 Jahren vertrugen die Menschen in Europa keine Kuhmilch. Ihnen fehlte das Enzym Laktase, das den Milchzucker verdaut. Das ist heute anders, dank einer verblüffenden Leistung der Evolution.

Das Geräusch geht buchstäblich durch Mark und Bein: Eine winzige Kreissäge schneidet kleine Stückchen aus einem menschlichen Oberschenkelknochen. Schauplatz ist das Anthropologische Institut der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. Der Knochen ist um die 3000 Jahre alt.

Zeichnung seitlich eines Tieres, das sowohl an eine Kuh als auch an einen Ochsen erinnert.
Legende: So hat vermutlich vor etwa 8000 Jahren das Ur-Rind ausgesehen, das aus dem Nahen Osten zu uns kam. Wikimedia / Brehms Tierleben

Die Kuh ist eine Orientalin

Das Ziel der Operation: Anhand des genetischen Codes ermitteln Forscher biologische Merkmale der damaligen Menschen. Man will herausfinden, wie die Kuh und ihre Milch den Weg zu uns fanden.

Noch vor 10'000 Jahren, zur Zeit der Jäger und Sammler, gab es in Europa keine Kühe. Forschungsleiter Prof. Joachim Burger: «Kuh, Schwein, Schaf und Ziege wurden damals im Südosten Anatoliens an der Grenze zu Syrien domestiziert. Nach und nach gelangten sie mit den Menschen zu uns.»

Alle unsere grossen Haustiere – bis auf den Hund, dessen Ursprünge tatsächlich in Europa lokalisiert wurden – kamen über Anatolien nach Europa. Unsere Kuh ist also eine Orientalin. Joachim Burger und sein Team fanden heraus, dass unsere europäischen Rinder letztendlich von nur etwa 80 wilden Ur-Rindern aus dem Nahen Osten abstammen.

Die kulturelle Entwicklung beeinflusst die Gene und umgekehrt

In Europa begann die Viehwirtschaft vor etwa 8000 Jahren. Burgers Forschungen zeigen: Am Anfang vertrug in Europa niemand die Milch. Sie enthält nämlich Laktose, Milchzucker, und der ist nur beschwerdefrei verdaubar mit einem Enzym namens Laktase. Dieses Enzym haben alle Säuglinge, die Muttermilch verdauen müssen. Normalerweise wird die Laktase nach dem Abstillen herunterreguliert, da man sie nicht mehr braucht.

«Im grössten Teil der Menschheitsgeschichte gibt es keine melkbaren Kühe oder Ziegen», sagt Joachim Burger. «Auf einmal, vor etwa 7000 Jahren, begannen auch erwachsene Menschen das Enzym zu produzieren, erstmals in Mitteleuropa.» Fachleute nennen dies «Genkultur-Koevolution». Das heisst: Eine kulturelle Entwicklung beeinflusst den menschlichen Genpool. Und umgekehrt – genetische Voraussetzungen ermöglichen eine kulturelle Entwicklung.

Auch die Hautfarbe hat sich verändert

Scheinbar müsse diese genetische Anpassung grosse Vorteile gehabt haben, sagt der Anthropologe. Seine Vermutung: In prähistorischer Zeit war die Kindersterblichkeit sehr gross. Mit dem Aufkommen der nahrhaften Milch überlebten mehr Kinder, da sie allmählich das Enzym Laktase entwickelten und es weiter vererbten.

Halbnahes Bild von Joachim Buger in Hemd, Pullover und Sacko, sprechend.
Legende: Joachim Burger, Professor und Anthropologe an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. Universität Mainz

Eine weitere faszinierende Anpassung an die Milch im Laufe der Evolution: Die Mainzer Anthropologen entdeckten, dass wir Europäer noch vor etwa 5000 Jahren dunkelhäutiger waren. Das veränderte sich in den folgenden Jahrtausenden – ein wichtiger Schritt: Eine hellere Haut ermöglicht nämlich, dass der Körper einfacher Vitamin D bilden kann. Dies ist wichtig, weil Vitamin D das Transportmittel für Kalzium ist. Und Kalzium ist ein wichtiger Milchbestandteil.

Kurz: Hellere Haut ermöglicht eine effizientere Verwertung des Milch-Kalziums in unserem Körper.

Evolution im Rekordtempo

Heute vertragen weltweit die meisten Menschen keinen Milchzucker, nämlich etwa 70 Prozent. In Mitteleuropa hingegen produzieren rund zwei Drittel der Menschen das Enzym Laktase und können Kuhmilch beschwerdefrei verdauen. Noch vor etwa 5000 Jahren, in der Prähistorie, waren es laut Burger null Prozent. «Wir kennen kein anderes Merkmal im menschlichen Genom, das in einer Bevölkerung innerhalb von siebentausend Jahren von null auf 70 Prozent hochgeschnellt ist», sagt der Professor.

«Das ist eine der stärksten evolutiven Kräfte, die wir je festgestellt haben. Das verändert unsere Vorstellungen von der Geschwindigkeit der Evolution enorm», sagt der Forscher. Die Evolution des Menschen sei eben nach der Eiszeit nicht abgeschlossen gewesen, sondern es herrschte auch nachher noch ein starker Selektionsdruck. «Vor allem durch die veränderte Umwelt, die wir selber kreiert haben. Mit der Sesshaftigkeit, mit dem Ackerbau, mit der Kultivierung von Pflanzen und der Domestikation von Tieren schafften wir eine völlig neue Umwelt. Und wir waren bis in historische Zeiten noch in diesem Prozess, uns an diese Umwelt neu anzupassen.» Teilweise ist das gelungen, so wie eben mit der Laktose-Verträglichkeit.

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