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Arno Gruen: «Empathie kann Menschen zu einer Kraft führen»
Aus Sternstunde Philosophie vom 07.06.2015.
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Gesellschaft & Religion Wie geht Menschlichkeit? Zum Tod von Arno Gruen

Arno Gruen, der Psychoanalytiker und Autor, ist im Alter von 92 in Zürich gestorben. Eine Frage trieb ihn sein Leben lang besonders um: Wie geht Menschsein? Wie schafft man es, sich seine Menschlichkeit zu erhalten? Gruen hat die Antworten gefunden.

Kinderfragen sind wohl die schwersten. Die kommen ganz einfach daher. Und wenn man sie zu beantworten sucht, dann kann es dauern. Selten bringt man etwas mit der gleichen Einfachheit auf den Punkt, mit der die Frage gestellt war. Arno Gruen hat beides geschafft. Er hat die Fragen gestellt und die Antworten gegeben. Eine seiner liebsten Fragen: Was ist der Mensch? Und was macht ihn zum Menschen, was macht das Menschsein konkret aus?

Arno Gruen

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Legende: Flickr/Timo Virtala

Arno Gruen wurde am 26. Mai 1923 in Berlin als Sohn jüdischer Eltern geboren. 1936 musste die Familie vor den Nationalsozialisten in die USA fliehen. Später studierte Gruen Psychologie in New York. Seit 1979 lebte er in seiner Wahlheimat Zürich.

Gruens Werk als Schriftsteller und seine Arbeit als Psychoanalytiker kreist um diesen Punkt des Menschseins. Sein Leben hat er damit verbracht. Er hat Antworten gefunden, die schmerzhaft sind, man könnte sie auch Wahrheiten nennen. Gruen wäre das Wort Wahrheit sicher eine Nummer zu gross gewesen, zu laut. Gruen war nicht laut. Er war leise, hatte eine fast zärtliche Sprachführung, tastend nach den richtigen Worten. Gruen guckte hin, genau, sehr genau und beschrieb Nuancen – liebevoll, gewissenhaft.

Gespräche waren eher Tänze als Gefechte

Der grosse Überzeugungsgestus, der an vielen zu beobachten ist, die etwas zu sagen haben, oder das zumindest meinen, war ihm vielleicht zu anstrengend. Er wollte nicht überzeugen, jedenfalls nicht durch Druck. Er stellte seine Sichtweisen zur Disposition. Man konnte sie nehmen oder es bleiben lassen.

Arno Gruen zu begegnen, war ein Moment von Freiheit für das Gegenüber: Man wurde nicht überrannt sondern herausgefordert, ernst genommen, respektiert. Gespräche mit Gruen glichen eher Tänzen als Gefechten. Machtgebaren war an ihm nicht festzustellen.

Audio
Angelika Schett über Arno Gruen
aus Kultur kompakt vom 22.10.2015.
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Sich auf die eigene Empathie verlassen

Gruen beschreibt unsere Zivilisation als eine, in der Menschlichkeit schwer überdauert. Überspitzt und düster gesagt: Wir kommen als Menschen auf die Welt und verlernen die Menschlichkeit systematisch. Erziehung besteht genau in diesem Verlust. Darin, dass unsere zutiefst menschlichen Reflexe nicht mehr funktionieren, sondern geregelt und systematisch unterdrückt werden, bis sie vielleicht irgendwann ganz ausgemerzt sind. Zivilisation ist der Weg zur Unmenschlichkeit. Aber Gruen wäre nicht Gruen, wenn er das stehenliesse.

Wie geht also Menschsein? Für Gruen ganz einfach: Sich auf seine Empathie verlassen. Auf sein Gefühl. Auf diese Fähigkeit, die alle Menschen in den ersten zwei Lebensjahren haben, nämlich an den Gesichtszügen des Gegenübers zu erkennen, wie es diesem Menschen geht. Und eine Resonanz zu entwickeln.

Eigentlich wüssten wir, wie es geht

Dazu haben wir unsere Spiegelneuronen, die neurologische Struktur, die uns erlaubt, nachzuempfinden. Eigentlich wüssten wir, wie es geht, schreibt Gruen, wir lernen nur im Lauf des Lebens, es zu unterdrücken.

Wir nehmen einen traurigen Menschen nicht mehr in den Arm, sondern schauen weg. Diesen Prozess, sich gegen die menschlichen Reflexe zu wehren, hat Gruen beobachtet, beschrieben und sich nicht damit abgefunden, dass wir am Anfang unseres Lebens eine Fähigkeit besitzen, die uns überleben lässt als Spezies und die ohne jede Sprache funktioniert. Gesichter lesen reicht, um ins Leben zu kommen.

Arno Gruens Werke (Auswahl)

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  • «Wider den Terrorismus». Klett-Cotta, 2015
  • «Wider den Gehorsam». Klett-Cotta, 2014
  • «Dem Leben entfremdet: Warum wir wieder lernen müssen zu empfinden. Klett-Cotta, 2013
  • «Der Fremde in uns». Klett-Cotta, 2000
  • «Verrat am Selbst: Die Angst vor Autonomie bei Mann und Frau». Causa, 1984

Appell zu kulturellem Ungehorsam

Gruen war immer wieder erstaunt, wie diese Grundfähigkeit abtrainiert wird. Seltsam kam es ihm vor, dass Eltern ihre Kinder weinen lassen, «weil sie sonst ihren Willen durchsetzen». Rätselhaft blieb ihm, wie wir Kooperation durch Konkurrenz ersetzen, wie wir Kinder zu Gegnern erziehen statt zur Zusammenarbeit. Wie wir alles, was mit Menschsein zu tun hat, als Weichheit und Schwäche diffamieren. Dass unser Wirtschaftssystem dem Vorschub leistet, war ihm klar. Aber nicht alles liegt an diesem System sondern beginnt schon vorher, es ist ein Teil unserer Kultur.

Eigentlich sind wir am Anfang unseres Lebens mit der Menschlichkeit weiter als später. Entwicklung ist hier eine Rückbesinnung auf etwas, das wir verloren haben. Gekonnt haben wir es.

Eigentlich ist Gruens Appell einer zum kulturellen Ungehorsam, nicht alles an Abstumpfung mitzumachen, das man als Erwachsenwerden bezeichnet. Wärme statt Härte, zuwenden statt strafen, hinschauen statt wegschauen. Und im Gegenüber sich selbst wiederfinden.

Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Nachrichten, 22.10.15, 6:02 Uhr

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