Die Mittelschicht ökonomisch zu definieren, fällt leicht: Wer zwischen 75 und 150 Prozent des Bruttomedianeinkommens von 6538 Franken verdient, gehört laut Bundesamt für Statistik dazu. Also knapp zwei Drittel der Bevölkerung.
Die Mitte sei eine Schicht, die von ihrem Einkommen gut leben könne und nicht auf staatliche Transferleistungen angewiesen sei. So umschreibt Soziologe Oliver Nachtwey von der Universität Basel diese Bevölkerungsgruppe. «Sie können einen gewissen Wohlstand erreichen, in den Urlaub fahren, einen Pkw haben oder zumindest mobil sein. Sie können ein wenig ansparen und an Kultur und Bildung teilhaben.»
In Nettozahlen wirkt die Lage der Mittelschicht allerdings weniger komfortabel. Auf circa 3000 bis 6000 Franken beziffert Nachtwey das Mittelschichtseinkommen. Miete und Krankenkasse abgezogen, bleibt für das Leben im Hochpreisland nicht viel übrig.
Das Selbstbild der Mittelschicht, eine komfortable Saturiertheit, entspreche nicht immer den Realitäten, so der Soziologe: «Weil die Mittelschicht eben häufig auch Fachverkäufer, Angestellte und kleine Handwerker einschliesst, die sich in prekären Lagen befinden können.»
Mittelschicht steht nicht so gut da, wie man denkt
Die Mittelschicht sei hierzulande weniger wohlhabend, als angenommen wird, erklärt Nachtwey: «Auch in der Schweiz haben Menschen der unteren Mittelschicht Probleme, wenn sie eine unerwartete Rechnung bekommen. Auch hier kann man nicht weit in den Urlaub fahren und muss sparen, um für die Kinder bestimmte Konsumgüter zu erwerben.»
Dieser Befund reibt sich mit dem Selbstverständnis der ökonomischen Mitte: «Sie gilt als Gruppe, die in der Regel die Gesellschaft zusammenhält und eher ausgleichend wirkt», sagt Oliver Nachtwey. «In der Selbstwahrnehmung steht sie zwischen den Extremen. Zwischen oben und unten, aber auch zwischen links und rechts.»
In der Mitte werde ein wesentlicher Teil der Steuern gezahlt. «Sie sind die Aktivsten in der bürgerlichen Gesellschaft, in der Politik. Sie sind die Leistungsträger. Wobei ich hinzufügen möchte: Die Verkäuferin im Supermarkt gehört ebenso zu den Leistungsträgern», so Nachtwey.
Die Mittelschicht sei ausserdem oft stark verschuldet, nicht zuletzt, weil sie ihren Erwartungen und denen ihrer «peer group» entsprechen wolle: ein grösseres Auto, einen besseren Urlaub, eine geräumigere Wohnung in besserer Lage. Lassen sich diese Ansprüche nicht erfüllen, sei auch die Mitte manchmal anfällig für politische Radikalität.
Mittelschicht von Politikern umworben
Hinsichtlich der politischen Haltungen sei die Mittelschicht alles andere als homogen. Zu ihrem konservativen Teil zählt er «die kleineren Ladenbesitzer, Selbständige, die vielleicht ein Elektro- oder ein Handwerker-Geschäft haben». Das Gegenstück bildet eine neue Mittelschicht, «die eher kosmopolitisch orientiert ist, eher angestellt, die aber auch in Start-ups arbeitet. Sie haben eine deutlich höhere Qualifikation.»
Nicht autonom
Die Mittelschicht spreche oft von Eigenverantwortung und Individualität. Sie sei aber gesellschaftsabhängiger, als sie annehme, sagt Oliver Nachtwey. «Man kann Eigenverantwortung nur leben, weil man sozial abgefedert ist.» Es gibt eine AHV, ein Bildungs- und ein Gesundheitssystem, einen Schutz vor Übergriffen des Arbeitgebers. «Diese gesellschaftlichen Rahmenbedingungen sind die Grundlage, auf der der Mittelstand gedeihen kann.»
Mit anderen Worten: So selbstbestimmt und autonom, wie sich viele Angehörige der Mittelschicht verstehen, sind sie nicht. Sondern Teil des Ganzen.