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50 Jahre Stonewall: Der Kampf gegen die Normen
Aus Kultur Webvideos vom 15.06.2019.
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50 Jahre Stonewall-Proteste Als die Bar zum Schlachtfeld wurde

Am 28. Juni 1969 kämpften Schwule, Lesben und trans Menschen vor dem «Stonewall Inn» in New York für mehr Rechte. Ein Veteran erinnert sich.

Tree sitzt gerade fünf Minuten am Tisch, da holt er sein iPhone aus der rechten Hosentasche und zeigt seine Sammlung von Penis-Fotos. Er wischt von Bild zu Bild, manche wurden ihm zugeschickt, andere hat er selbst aufgenommen. In den USA, Brasilien, Deutschland, wo auch immer er in den letzten Jahren unterwegs war.

Tree wischt und zoomt und grinst. Er präsentiert seine Kollektion mit Stolz, obwohl niemand danach gefragt hat. Aufdringlich könnte man das nennen. Ja, es wirkt so, als wäre Tree aufdringlich aus Prinzip.

Diese eine Nacht

80 Jahre alt ist der Mann, er wurde zu einer Zeit erwachsen, als solche Offenheit noch undenkbar war. Als homosexuelle Menschen wie er sich verstecken mussten, vor dem Staat, vor der Polizei, vor den Medien, oft auch vor den eigenen Familien und Freunden.

Tree erinnert sich nur zu gut an damals, speziell natürlich an diese eine Nacht, die ihn sein ganzes Leben begleiten sollte. In wenigen Tagen wird sich diese Nacht, die den Anfang der Stonewall-Unruhen markierte, zum 50. Mal jähren.

Ein Mann steht auf dem Troittoir in einer Grosstadt. Hinter ihm eine leere Strassenkreuzung mit Fussgängerstreifen.
Legende: Tree ist 80 Jahre alt. Und wurde zu einer Zeit erwachsen, als homosexuelle Menschen sich verstecken mussten. SRF/Lukas Hermsmeier

In den Morgenstunden des 28. Juni 1969 kämpften Hunderte Schwule, Lesben und trans Menschen vor dem «Stonewall Inn», einer von der Mafia kontrollierten Bar im New Yorker Stadtteil Greenwich Village, mit der Polizei.

Vorausgegangen war eine Razzia – eine von vielen. Aber diese war eine zu viel. Die Gäste wehrten sich gegen die systematischen Repressionen mit Flaschen und Steinen.

Geburtsstunde der LGBTQ-Bewegung

Als «Geburtsstunde der modernen Schwulen- und Lesbenbewegung» werden die Ausschreitungen von manchen Historikern bezeichnet. Dass sich queere Communitys lange vor Stonewall organisiert hatten, wird dabei gelegentlich unterschlagen.

Fest steht jedenfalls, dass die Ereignisse im Juni 1969 globale Energien freisetzten. Die Forderungen nach mehr Rechten und Anerkennung wurden schärfer. Kollektive wie die «Gay Liberation Front» formierten sich, etliche Bücher wurden in den folgenden Jahrzehnten zum Thema verfasst, zahlreiche Filme gedreht.

Auch die bis heute weltweit veranstalteten Pride-Paraden, in der Schweiz und Deutschland «Christopher Street Day» genannt, wurden durch Stonewall geboren.

Plötzlich Geschubse, Schreie

Von den Menschen, die am Aufstand beteiligt waren, leben nur noch wenige. Tree ist einer von ihnen. Sie nennen sich Stonewall-Veteranen. «Wir haben damals zu Musik aus der Jukebox getanzt, Cha-Cha-Cha, Mambo, Merengue», erzählt er.

Plötzlich Geschubse, Schreie, die Beamten waren angerückt, dann flogen die ersten Gegenstände. Tree konnte aus der Bar schleichen, bevor die Polizei mit den Festnahmen begann.

Ein Schwarzweissbild einer Menschenmenge die sich einigen Polizisten entgegenstellt.
Legende: 28. Juni 1969. Razzia im «Stonewall Inn» in der Christopher Street. Die Menschen versuchen die Verhaftungen der Polizei zu verhindern. Getty Images/NY Daily News Archive

«Warum sollte ich aufhören?»

Er erinnert sich an die Angst, weniger allerdings vor den Polizisten als vor den Fotografen, die schnell in die Christopher Street geeilt waren. In der Zeitung wollte der damals 30-Jährige auf keinen Fall stehen. «Meine Mutter Sally wusste ja nicht, dass ich schwul war», sagt Tree.

Heute ist das anders. Heute tritt Tree gerne in Erscheinung. Als inoffizieller Stonewall-Botschafter. Er kennt die Bar dreckig und sauber, nüchtern und betrunken, morgens und abends, als Gast und als Mitarbeiter.

Wenn Tree nicht durch die Welt reist, steht er drei Tage die Woche als Barkeeper hinter dem Tresen des «Stonewall Inn». Donnerstags, freitags, samstags. An Ruhestand will er nicht denken. «Warum sollte ich aufhören? Was soll ich denn sonst mit der Zeit anfangen?», fragt er.

Lesbische Polizistinnen, queere Wall-Street-CEOs

Ein Mittwochnachmittag, die ersten Gäste haben sich am Glas positioniert. Einige Touristen, eine Junggesellenfeier aus New Jersey, ein paar Locals, die Rum-Cola trinken. An den Wänden hängen Zeitungsausschnitte und Schwarz-Weiss-Fotos, von der Decke baumeln Regenbogenfahnen.

Eine Bar, man sieht den Barkeeper, ein älterer Herr mit grauen Haaren und Brille beim Ausschenken. Überall hangen Flaggen in Regenbogenfarben. Die Bar ist gut besucht.
Legende: Touristen, Junggesellenfeiern, Regenbogenfahnen: Das «Stonewall Inn» steht mittlerweile in jedem Reiseführer. Imago/Zuma Press

Die Bar steht mittlerweile in jedem Reiseführer, wilde Underground-Partys finden längst woanders statt. 2016 erklärte der damalige US-Präsident Barack Obama das «Stonewall Inn» sogar zum offiziellen Nationalmonument.

Und wenn jedes Jahr im Juni Zehntausende Menschen zur «Pride Parade» durch Manhattan tanzen, sind auch schwule Politiker, lesbische Polizistinnen und bisexuelle Wall-Street-CEOs mit dabei.

«Das schwulste Viertel Manhattans»

Tree steht vor dem Eingang. Schlabberjeans, kurzärmliges Hemd, weisse Turnschuhe. Seinen freien Tag möchte er nicht dort verbringen, wo er arbeitet, also schlägt er das «Julius» vor, eine Schwulenkneipe um die Ecke, in der sich früher Tennessee Williams und Truman Capote besoffen.

Tree humpelt, «das Alter!», er begrüsst zwei Bekannte, Küsschen rechts, Küsschen links. Das hier ist sein Block. Kaffee und Amaretto, das ist sein Gedeck. «In Deutschland bin ich der Bauuuum», sagt Tree, der 1,94 Meter gross ist – oder es zumindest mal war.

Und dann noch mal, so langgezogen wie sein Körper: «Bauuuuum.» Seinen Nachnamen will er nicht verraten. «Den kenne nicht mal ich selbst!» Wenn Tree lacht, sieht man seine Zahnlücke rechts oben.

Ein Mann mit gestreiftem Hemd und Jeans steht vor einer Bar. Im Schaufenster ist eine rote Leuchtschrift "The Stonewall Inn".
Legende: «Warum sollte ich aufhören? Was soll ich denn sonst mit der Zeit anfangen?» Tree arbeitet drei Tage die Woche als Barkeeper im «Stonewall Inn». SRF/Lukas Hermsmeier

Tree wuchs in Brooklyn auf, später zog die Familie nach Queens. 1968 fand er eine Wohnung in Chelsea, für 112 Dollar pro Monat, in der er bis heute wohnt. «Das Viertel wurde irgendwann zum schwulsten Viertel Manhattans. Und später zum teuersten Viertel Manhattans», sagt er.

Wer warf den ersten Ziegelstein?

Ende der 80er, Anfang der 90er habe die Gentrifizierung Fahrt aufgenommen. Mieten stiegen, Bars verschwanden. Doch nicht nur die. Viele seiner Freunde seien durch AIDS gestorben, sagt Tree. «Manchmal schauen mein bester Freund Jonny und ich uns an und fragen uns: Warum sind wir noch am Leben?»

Dokumentationen und Filme zu #Stonewall50

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  • «50 Jahre nach Stonewall» : Der Dokumentarfilm zieht Bilanz und fragt namhafte Vertreter aus Kultur und Politik.
  • «Stonewall» (Sonntag , 16. Juni 2019, 20.05 Uhr, SRF zwei): Ein junger Mann durchlebt sein politisches und sexuelles Erwachen in den Wochen vor den Stonewall-Krawallen in New York.

Was in der legendären Nacht zum 28. Juni 1969 genau passierte, ist bis heute Gegenstand von Diskussionen. «Wer warf den ersten Ziegelstein vor dem Stonewall?», fragte die «New York Times» erst vor ein paar Wochen und kam mithilfe einiger Zeitzeugen, Geschichtsprofessoren und Aktivistinnen wohl zu der einzig korrekten Antwort, und zwar, dass es wichtigere Fragen gibt.

Zum Beispiel: Auf welche Art und Weise werden queere Menschen auch im Jahr 2019 diskriminiert? Welche Gruppen sind besonders betroffen? Und welche hart erkämpften Rechte in Gefahr?

Kampf gegen die Normen

Was LGBTQ-Communitys von damals und heute eint, ist der Kampf gegen die Normen. «Ob es jemand ist, der keinen Job bekommt, weil er sichtbar transgender ist oder jemand, dessen Ausweis nicht mit der eigenen Darstellung übereinstimmt, oder eine Lesbe, die auf der Strasse verprügelt wird: Der rote Faden ist, dass wir dafür bestraft werden, nicht die genderspezifischen Erwartungen zu erfüllen», sagt der Historiker und Buchautor Hugh Ryan.

Eine Demonstration - jemand hält ein Schild hoch auf dem steht "Stonewall = Resist"
Legende: Demonstration gegen die Trump-Regierung im Februar 2017. Der Kampf gegen die Diskriminierung eint die LGBTQ-Communities von damals und heute. Imago/Pacific Press Agency

Insbesondere People of Color, prekäre Arbeiter und Arbeiterinnen sowie Menschen, die sich weder als Frau noch als Mann definieren, seien heute betroffen, so Ryan. «Sie sind die Hauptleidtragenden von staatlicher Gewalt und Überwachung.»

Wie viele andere Experten verweist Ryan darauf, dass man Stonewall nicht isoliert betrachten dürfe. «Stonewall war selbstverständlich ein sehr bedeutsames Ereignis, aber für mich war nicht der Aufstand selbst am wichtigsten, sondern die Organisation der queeren Communitys vorher und nachher», sagt Ryan.

Sein Buch «When Brooklyn Was Queer», das im März dieses Jahres erschienen ist, beschäftigt sich mit der frühen LGBTQ-Geschichte des grössten New Yorker Stadtteils.

«Brooklyn hat nicht nur immer im Schatten der queeren Manhattaner Viertel wie Greenwich Village und Harlem gestanden, es gibt auch eine systematische Ausradierung seiner queeren Geschichte», heisst es darin.

«Niemand hat dir ein Morgen versprochen»

In Brooklyn läuft in diesen Tagen auch die grösste Ausstellung, die sich mit dem Stonewall-Aufstand vor 50 Jahren auseinandersetzt. Unter dem Namen «Nobody Promised You Tomorrow» zeigt das Brooklyn Museum Werke von insgesamt 28 LGBTQ-Künstlerinnen und -Künstlern, die allesamt nach 1969 geboren wurden.

Der Titel «Niemand hat dir ein Morgen versprochen» ist ein Zitat der afro-amerikanischen Drag Queen Marsha P. Johnson, die zu den Stonewall-Aufständischen gehörte und sich bis zu ihrem Tod 1992 für die Rechte von trans Menschen einsetzte.

Eine schwarze Transgender-Frau verteilt Flyer an der New York University.
Legende: Marsha P. Johnson (l.) beim Flyerverteilen an der New York University im Jahr 1970. REUTERS/Diana Davie

Auch eine andere Queer-Ikone, Stormé DeLarverie, von der es lange hiess, sie hätte den ersten Stonewall-Stein geworfen, wird im Brooklyn Museum gewürdigt. Die Installation von L.J. Roberts zeigt eine Sammlung von Bildern und Zeitungsausschnitten. Darunter eine Berichtigung, die die «New York Times» im Jahr 2016 drucken musste:

«Dieser Artikel bezog sich unvollständigerweise auf die ersten Demonstranten im Stonewall Inn. Es waren primär schwule Männer, aber nicht nur schwule Männer; mindestens eine Lesbe war beteiligt.» Mit der «einen Lesbe» war DeLarverie gemeint.

Auch das Leslie-Lohman-Museum of Gay and Lesbian Art in Manhattan erinnert derzeit an den Aufstand vor 50 Jahren. «Art after Stonewall, 1969-1989» heisst die Ausstellung, die in vier Bereiche geteilt ist: «Coming Out», «Sexual Outlaws», «Gender Play» und «Use of the Erotic».

Zu sehen sind Fotos, unter anderem von Peter Hujar und Robert Mapplethorpe, sowie Zeichnungen, Collagen, Kleidungsstücke und Bücher, die verschiedene Formen und Phasen der queeren Emanzipation abbilden.

Stonewall-Anliegen bis heute ungelöst

Beide Ausstellungen, das ist auffällig, verzichten auf Nostalgie und Glorifizierung. Stattdessen werden die Verknüpfungen von Vergangenheit und Gegenwart betont, die Kontinuität der Diskriminierung.

«Viele der Anliegen, die die Beteiligten der Stonewall-Revolte damals motivierten, bleiben bis heute ungelöst. Die Realität bedeutet aggressive Gentrifizierung, Polizeigewalt und Masseninhaftierung», erklären die Kuratoren des Brooklyn Museums.

Wie wenig sich LGBTQ-Menschen in den USA bis heute auf den Staat verlassen können, zeigen nicht zuletzt die aktuellen Vorhaben der Trump-Regierung. Ende Mai veröffentlichte das Gesundheitsministerium einen Plan, wonach trans Menschen nicht mehr durch Antidiskriminierungsregeln geschützt wären.

«Trump ist das Schlimmste»

Insbesondere der begrenzte Zugang zu medizinischen Behandlungen ist verheerend. Die Suizidzahlen bei queeren Menschen liegen deutlich über dem Schnitt.

Auch andere Ministerien haben transfeindliche Gesetze erlassen. Seit April beispielsweise nimmt das US-Militär keine Soldaten mehr auf, die sich nicht mit dem bei der Geburt zugeteilten Geschlecht identifizieren.

Zwei Frauen umarmen sich vor der Bar "The Stonewall Inn". Am Boden vor der Bar liegen viele Rosensträusse. An der Wand ein Schild "Stop the Hate".
Legende: «Die Existenzbedrohung war sehr nah.» Das «Stonewall Inn» nach dem Terroranschlag in einem LGBTQ-Nachtclub in Orlando im Juni 2016. REUTERS/Shannon Stapleton

«Trump ist das Schlimmste, was Amerika passieren konnte», sagt Tree und nimmt seinen letzten Schluck Amaretto. Gerade in den südlichen US-Bundesstaaten, die zum tiefprotestantischen Bible Belt gehören, sei Queerfeindlichkeit auch in der Bevölkerung weitverbreitet, erklärt er.

Als ein Terrorist im Juni 2016 in einem LGBTQ-Nachtclub in Orlando 49 Menschen erschoss, versammelten sich kurze Zeit später Tausende Menschen vor dem «Stonewall Inn» zu einer Mahnwache.

In den Tagen darauf stapelten sich die Blumen vor dem Eingang. Für die Mitarbeiter habe sich die Solidarität fast beklemmend angefühlt. Die Existenzbedrohung war sehr nah.

Ein Bild der Stonewall Bar von aussen - über dem Fenster hängt ein Transparent auf dem steht "Love wings. Cheers to 50 years of nonstop pride. JetBlue"
Legende: Die LGBTQ-Community lässt sich gut vermarkten: Die Fluggesellschaft JetBlue Airways wirbt für Stonewall. JetBlue Airways

Im Juni 2019 hängt über dem Eingang der Bar ein Werbeplakat der Fluggesellschaft «JetBlue» – «Cheers to 50 years of nonstop pride» steht dort. Prost auf 50 Jahre ununterbrochenen «Pride».

Die LGBTQ-Community lässt sich mittlerweile gut vermarkten. Seit 2015 dürfen Schwule und Lesben in allen US-Bundesstaaten heiraten. Und mit Pete Buttigieg kandidiert momentan sogar ein offen homosexueller Politiker für das Amt des US-Präsidenten.

Fortschritt, keine Frage. Doch für viele weniger privilegierte queere Menschen gilt heute immer noch, was Marsha P. Johnson damals rief: «Nobody promised you tomorrow». Ihnen ist das Morgen nicht versprochen.

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