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Zwei Jungen rennen im Zwielicht über eine Terrasse.
Legende: Jugendliche in Rosarno: Der Alltag in der kalabrischen Stadt ist von der 'Ndrangheta bestimmt. Pietro Masturzo/L'Espresso
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Die Macht der Mafia Papa zeigt, wie man tötet

Der Weg von Kindern aus Mafiafamilien ist vorgezeichnet: Sie sollen in die Fussstapfen der Väter treten. Wer davon abweicht, bezahlt einen hohen Preis.

Das Wichtigste in Kürze

  • Die italienische Journalistin Angela Iantosca hat mit Kindern und Jugendlichen der Mafia gesprochen – und so Einblicke in ihren Alltag erhalten.
  • Kinder aus Mafiafamilien werden früh in ihre vorbestimmte Rolle im Clan gedrängt. Gewalt bestimmt ihr Leben von klein auf.
  • Viele Jugendliche brechen die Schule frühzeitig ab. Nur wenigen gelingt es, sich von der organisierten Kriminalität fernzuhalten.

Lesedauer: 12 Minuten

«Wir verbringen das ganze Leben damit, am Tropf der Mafia zu hängen.» Dieser Satz stammt von einem jungen Mädchen aus der Kleinstadt Melito in Kalabrien.

Eine zutreffende Aussage, sagt die italienische Journalistin Angela Iantosca. Sie hat die Lebensverhältnisse von Kindern und Jugendlichen in Mafiafamilien untersucht und dazu ein Buch veröffentlicht.

Junge steht vor Spielautomaten
Legende: Die Konfrontation mit der Gewalt beginne bereits in den Kinderschuhen, sagt die Journalistin Angela Iantosca. Pietro Masturzo/L'Espresso

Die mafiöse Erziehung beginne schon in der Wiege: «Dem Säugling eines Mafiabosses werden ein Messer und ein Schlüssel in die Wiege gelegt.» Wenn das Kind zuerst den Schlüssel ergreife, werde es einmal die Polizei- oder Staatsgewalt vertreten, heisse es. Wenn es aber das Messer packt, werde es ein Mitglied der Organisation.

Mit zehn Jahren bist du für die ältere Generation bereits ein Mann.
Autor: Ex-Mafioso

Zur Person

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Porträt Angela Ioantosca
Legende: zVg

Die in Rom lebende Journalistin und Autorin Angela Iantosca, Link öffnet in einem neuen Fensterim Browser öffnen recherchiert seit Jahren im Milieu der Mafia in Kalabrien. Im Buch «Onora la madre» beleuchtete sie 2013 die Situation der Frauen in Mafiafamilien, die Opfer oder Mittäterinnen sind. Dabei wurde sie auf die schwierigen Lebensverhältnisse der Kinder und Jugendlichen aufmerksam.

«Der Vater arrangiert die beiden Gegenstände in der Wiege so, dass sich das Kind zuerst das Messer nimmt, denn er hat bereits über die Zukunft des Kinds entschieden.»

Mit Blut getauft

Angela Iantosca hält fest, dass dies nur einer von vielen Bräuchen ist, mit dem die Zugehörigkeit zum Clan markiert wird. Mit 14 Jahren werde ein Jugendlicher zudem «getauft». Bei diesem Ritual hat er sich in einen Kreis von fünf Gewährsleuten zu stellen, die ihn nach aussen abschirmen.

Wie auch der italienische Journalist und Mafiaspezialist Roberto Saviano mit seinen Recherchen dokumentiert hat, wird dem Täufling mit einem Messer in den Finger geschnitten. Dabei soll ein Blutstropfen auf eine Gebetskarte des Erzengels Michael fallen, der als Schutzheiliger der 'Ndrangheta gilt. Anschliessend wird dieses Heiligenbild an einer Ecke leicht angebrannt.

Mit dieser Zeremonie wird aus dem Jugendlichen ein «Mann der Ehre». Dadurch verliere er jegliche Selbstbestimmung: Er sei nicht mehr frei, sondern für immer an die Organisation gebunden, sagt Angela Iantosca.

Ein Kind auf Rollschuhen, dass sich ein Herzballon vor das Gesicht hält.
Legende: Viele Kinder im kalabrischen Städtchen Rosarno sind in die Mafia eingebunden. Pietro Masturzo/L'Espresso

In Hinterzimmern und Küchen

Dass solche archaische Riten im 21. Jahrhundert in einem europäischen Land immer noch praktiziert werden, mag für Aussenstehende schwer vorstellbar sein. Doch werden Jugendliche heute noch durch diese Zeremonie in die Organisation aufgenommen.

Das Ritual wird an ganz gewöhnlichen Orten durchgeführt: in der Garderobe eines Strandbads, im Hinterzimmer eines Clublokals, in der Küche einer Trattoria – auch ausserhalb des Landes.

Papa ist ein Held, den du nachahmen und gar noch übertreffen willst.
Autor: Ex-Mafioso

Augenfällig wurde dies, als 2007 in Duisburg in einem italienischen Restaurant sechs Männer umgebracht wurden. Der Mordfall geschah bei der Taufe eines Jugendlichen. An diesem Anlass wurde zugleich die Fehde zweier Clans der kalabrischen Stadt San Luca ausgetragen.

Kinder lernen schiessen

Die Konfrontation mit der Gewalt beginne bereits in den Kinderschuhen, sagt Angela Iantosca. Schon Kleinkinder würden einschlägige Geschichten zu hören bekommen, in denen Mafiosi als Helden auftreten. Männer, die erfolgreich vor der Polizei geflüchtet sind, für die Familienehre gekämpft haben und dafür ins Gefängnis gekommen oder ermordet worden sind: «Das sind die Geschichten, die den Kindern täglich eingetrichtert werden.»

Schon kleine Kinder würden den Umgang mit Waffen lernen. Ein ehemaliger Mafioso, der mittlerweile als Kronzeuge mit der Justiz zusammenarbeitet, erinnert sich an die Szenen, als sein Vater Waffen nach Hause brachte und ihm erklärte, wie man sie putzt. «Du gewöhnst dich an sie. Bald werden sie deine Arbeitsinstrumente sein. Anfangs sind sie wie Spielsachen für dich», erzählt er.

Zwei Kinder spielen Billiard.
Legende: Die Väter sind die Helden: Szene in einer öffentlichen Spielhalle in Rosarno. Pietro Masturzo/L'Espresso

«Du findest Gefallen daran, denn Papa lässt dich ins Fernglas blicken: Papa ist ein Held, den du nachahmen und gar noch übertreffen willst. Ein Papa, der dir nie sagt, dass er dich gern hat. Der dich nie liebevoll umarmt, sondern dein strengster Lehrer ist.»

Das Töten üben

Der Vater führte als Instruktor Schritt für Schritt in die Handhabung der Waffen ein, wie der Ex-Mafioso erzählt: «Es war an Neujahr. Solche Augenblicke werden immer ausgewählt, um den Nachwuchs aus dem Fenster schiessen und üben zu lassen. Mit zehn Jahren bist du für die ältere Generation bereits ein Mann.»

Er erinnere sich noch, wie er sich beim Laden der Pistole am Daumen wehgetan habe. «Das war sehr peinlich: Welch eine Schande, solch ein Fehler! Dieses Verlegenheitsgefühl war mir eine Lehre, ein Antrieb, mich selbst zu übertreffen, besser zu werden.»

Mit zwölf lernte der Junge, wie man eine Pistole hält, wie man auf Scheiben schiesst und schliesslich, wie man tötet: «Du musst deinem Opfer zuerst in die Brust schiessen, denn sie ist die grösste Zielscheibe und die Trefferwahrscheinlichkeit am höchsten. Dann musst du es mit zwei Schüssen in den Nacken zu Ende bringen.»

Die Kinder der 'Ndrangheta zeigen keine Emotionen.
Autor: Angela IantoscaJournalistin

Unbedingt gehorchen

Der Kronzeuge erinnert sich an seine Angst, die er als Zehnjähriger vor seinem gewalttätigen Vater hatte: «Ich fürchtete mich vor seinem Schatten, vor seinen Schritten, vor dem, was er hätte tun können.»

Irgendwann sei der Augenblick gekommen, als er vorgegeben habe, keine Angst mehr zu spüren: «Der Instinkt sagt dir, wie du mit der Angst umgehen musst. Entweder du wirst verrückt oder du hörst auf, Angst zu haben. Ein Kind kann all diese Gewalt nicht ertragen.»

Die Erziehung in Mafiafamilien werde auch heute geprägt von drohender Gewalt, sagt die Journalistin Angela Iantosca. Von den Gesten des Vaters, dem Schweigen der Mutter und der Vorstellung, all dem nicht entrinnen zu können.

Drei Jungen gehen im Licht der Strassenlaterne eine Treppe hinunter.
Legende: Die Mafiakinder werden nach den Wertvorstellungen einer kriminellen Organisation erzogen. Pietro Masturzo/L'Espresso

«Ohne Gefühle, wie Monolithen»

Angela Iantosca konnte in Absprache mit dem Jugendgericht in Reggio Calabria mit straffälligen Jugendlichen Kontakt aufnehmen und erfuhr dadurch viel über deren Lebensrealität.

Mit den 14- bis 18-jährigen Jungen und Mädchen ins Gespräch zu kommen, sei allerdings nicht einfach gewesen: «Denn die Kinder der 'Ndrangheta gleichen einem Monolithen, zeigen keine Emotionen. Die Tatsache, dass sie Tag für Tag nach den Wertvorstellungen einer kriminellen Organisation erzogen werden, untergräbt ihre Menschlichkeit. Sie sind unfähig, Gefühle zu haben – haben sie doch im Namen der 'Ndrangheta geschworen, andere Menschen zu töten, wenn es die Familienehre verlangt.»

Buchhinweis

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Angela Iantosca: «Bambini a Metà. I Figli Della 'Ndrangheta», Giulio Perrone Editore, 2015.

Wer Regeln brechen darf

Kinder in Mafiafamilien würden an die Macht des Vaters, Onkels oder des älteren Bruders gewöhnt und erlebten im Alltag, welche Vorrechte diese Männer geniessen. Ihnen werde auf der Strasse der Vortritt gewährt und jedes Hindernis aus dem Weg geräumt, sagt Angela Iantosca:

«Wenn ein Mafioso an einen Ort kommt, reagieren alle auf seine Ankunft und lassen ihn vorgehen. Gibt es in der Gemeindekanzlei oder im Postamt eine Schlange, so steht er bestimmt nicht an.» Kinder lernten so von klein an, wer Regeln brechen darf und trotzdem höchsten Respekt bekommt.

Drei spielende Kinder vor einer glänzenden Wand.
Legende: Ein Wohnquartier in Rosarno: Kinder ahmen die Mafiosi früh nach. Pietro Masturzo/L'Espresso

In der Höhle des Löwen

Ein Schauplatz, an dem dieses Verhalten nachgeahmt und ausprobiert wird, ist die Schule. Eine Lehrerin, Domenica Cacciatore, hat die Probe aufs Exempel gemacht und sich in die Höhle des Löwen begeben.

Sie wollte beweisen, dass es in einer Hochburg der kalabrischen Mafia, in San Luca, möglich ist, eine gute Schule zu führen. Doch sie musste feststellen, dass Vandalismus verbreitet war, dass oft Mobiliar zerstört wurde. Lehrpersonen scheuten sich, soziale Regeln durchzusetzen oder Schüler negativ zu bewerten – aus Angst vor Rache der berüchtigten Mafiafamilien.

Zum Fotograf

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Der italienische Fotograf Pietro Mastruzo, Link öffnet in einem neuen Fensterim Browser öffnen arbeitet für Zeitungen wie «L’Espresso», «The New Yorker» oder «Le Monde». 2010 erhielt er den World Press Photo Award für ein Bild aus dem Iran, Link öffnet in einem neuen Fensterim Browser öffnen. Die hier gezeigten Bilder entstanden 2015 in Kalabrien.

Cacciatore versuchte mit einer Reihe von Massnahmen, den Niedergang der Schule zu stoppen. Sie liess eine Kamera installieren, um Gewalt in der Schule überhaupt belegen zu können. Und sie zeigte Eltern an, die ihre Kinder nicht zur Schule schickten.

Die Mafia prägt nicht nur die Schule

Nach vier Jahren kam Cacciatore zum Schluss, dass es möglich ist, die desolaten Zustände in einer Schule zu verbessern. Zugleich machte sie der italienischen Öffentlichkeit aber auch klar, dass es damit nicht getan ist: Nicht nur die Schule, sondern generell das von der Mafia verwüstete Territorium, die Gemeinde oder Stadt, müsse aufgewertet werden.

Nur der Schmerz hält die Familie zusammen.
Autor: Jugendlicher aus Mafia-Familie

Es brauche Investitionen in die öffentliche Infrastruktur, um Pausenplätze, Sportanlagen und Bibliotheken zu schaffen, um Aktivitäten in den Stadtteilen und Sozialarbeit zu finanzieren.

Viele der Jugendlichen, die sich wegen mafiöser Machenschaften vor Gericht verantworten müssen, haben zuvor die Schule abgebrochen. Ein grosser Teil von ihnen kommt aus Familien, in denen die Eltern nicht präsent sind.

Dies ist eine weitere Erkenntnis der Journalistin Angela Iantosca, die nicht nur Gespräche mit jungen Delinquenten geführt, sondern auch Gerichtsakten ausgewertet hat. Oft sei der Vater im Gefängnis oder tot, und bei einem Drittel der Verurteilten sei auch die Mutter in Haft.

Zwei Jungen tauschen Fussball-Sticker, von oben aufgenommen.
Legende: Jungen spielen in San Luca mit Fussball-Stickern. In der kalabrischen Kleinstadt gibt die 'Ndrangheta den Ton an. Pietro Masturzo/L'Espresso

In den Fussstapfen des Vaters

Die Kinder aus den rund 4000 Mafiafamilien in Kalabrien seien oft sich selber überlassen, hält die Journalistin aus Rom fest. Mit Gefälligkeiten würde ein Jugendlicher etwas Geld verdienen und könnte sich so das eine oder andere leisten: ein iPhone der neusten Generation etwa oder ein Motorrad.

Er wachse nach und nach in seine vorbestimmte Rolle hinein. Zu Beginn sei er ein reiner Befehlsempfänger und müsse sich allzeit bereithalten, sagt Angela Iantosca: «Sei es, um ein Paket mit Drogen zu transportieren oder etwas ins Gefängnis zu bringen – er muss den Auftrag ausführen, er hat keine Wahl.»

Mein Schicksal ist vorgezeichnet. Ich werde im Gefängnis landen.
Autor: Jugendliche aus Mafia-Familie

Doch in diesen Lebensläufen ereigne sich irgendwann ein dramatischer Moment, in dem die Rollen neu verteilt werden: Komme der Vater ins Gefängnis oder werde er in einer Fehde oder bei einem Polizeieinsatz getötet, habe der Sohn die Pflicht, in dessen Fussstapfen zu treten.

Schon Kinder wüssten, dass der Tod ein Teil der Bürde sei, die sie zu tragen haben. Ein Jugendlicher habe ihr gesagt: «Nur der Schmerz hält die Familie zusammen.»

Ein Jugendlicher fährt in Plati mit einem roten Mofa in eine Strasse.
Legende: Auch das kalabrische Dorf Platì ist eine Hochburg der Mafia. Pietro Masturzo/L'Espresso

Den vorgezeichneten Pfad verlassen

Unter den Jugendlichen, mit denen Angela Iantosca gesprochen hat, war auch eine 15-Jährige, die sich wegen eines Erpressungsversuchs vor der Justiz hatte verantworten müssen. Allerdings wurde sie nicht verurteilt, weil das Gericht zum Schluss kam, dass sie von ihrem älteren Bruder dazu angestiftet worden war.

Die Eltern der beiden waren im Gefängnis. Auch die Grossmutter war wegen organisierter Kriminalität verurteilt worden und stand unter Hausarrest.

Audio
Ein Richter nimmt der Mafia die Kinder weg
aus Kontext vom 08.01.2018. Bild: Imago/Dieter Bauer
abspielen. Laufzeit 18 Minuten 11 Sekunden.

Das Gericht ordnete an, das junge Mädchen in eine Pflegefamilie in Norditalien zu platzieren, weit weg von ihrem angestammten Milieu.

Aus den Gesprächen, die die Journalistin mit der Jugendlichen geführt hat, geht hervor, dass diese im Glauben aufgewachsen ist, dass es kein Entrinnen gibt: «Mein Schicksal ist vorgezeichnet. Ich werde im Gefängnis landen, denn die Polizei hat es auf uns abgesehen.» So habe sie es immer zu Hause gehört.

Ein Junge führt seinen Hund spazieren, im Hintergrund eine Art Torbogen.
Legende: Die Eltern von Mafiakindern sind oft wenig präsent – auch, weil viele im Gefängnis sind. Pietro Masturzo/L'Espresso

Befreiung hat einen hohen Preis

In der Zwischenzeit hat die Jugendliche in einer norditalienischen Stadt eine Ausbildung zur Kosmetikerin gemacht. Sie kehrte nicht nach Kalabrien zurück. Sie hat den Mafiaclan hinter sich gelassen.

Ihre Mutter tat es ihr gleich. Nachdem sie aus ihrer fünfjährigen Haft entlassen worden war, zog sie zu ihrer Tochter. Die Geschichte der beiden Frauen ist die Geschichte einer Befreiung.

Ihr Ausstieg ist mutig, hat aber einen hohen Preis: Sie haben eine neue Identität annehmen und den Rest der Familie zurücklassen müssen.

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