Zum Inhalt springen

Header

Video
Mütter und Töchter: «Es ist kompliziert»
Aus Kulturplatz vom 24.04.2019.
abspielen. Laufzeit 29 Minuten 45 Sekunden.
Inhalt

US-Feministin Vivian Gornick «Ich habe die Gegenwart meiner Mutter nie genossen»

Vivian Gornick hat vor über 30 Jahren ein Buch über die schwierige Beziehung zu ihrer Mutter geschrieben. In «Fierce Attachments» erzählt sie von Gesprächen mit ihr. Während langen Spaziergängen durch Manhattan streiten die beiden Frauen über weibliche Lebensentwürfe, Ehe, Kinder und Beruf.

Der autobiografische Roman ist zum Klassiker der feministischen US-Literatur geworden. Erst jetzt wird er in mehreren europäischen Ländern übersetzt.

Da steckt etwas in diesem Mutter-Tochter-Thema, das immer noch brennt. Die New Yorker Journalistin und Feministin Vivian Gornick über Mutterbilder, Freiheit und Verantwortung.

Vivian Gornick

Vivian Gornick

Personen-Box aufklappen Personen-Box zuklappen

Vivian Gornick, 1935 als Tochter jüdischer Einwanderer in der Bronx geboren, ist Autorin, Journalistin, Literaturkritikerin und bekennende Feministin. Sie veröffentlichte bisher elf Sachbücher – oft mit autobiografischem Hintergrund.

SRF: Die deutsche Übersetzung von «Fierce Attachments» lautet ganz einfach «Ich und meine Mutter». Wie war Ihre Mutter?

Vivian Gornick: Sie war clever. Aber ungebildet, ängstlich und voller Vorurteile und Selbstmitleid. Sie ertrank darin. Das hat mich abgestossen. Ich wollte nie mit ihr sein. Nur manchmal, da konnte sie tolle Geschichten erzählen.

Mit Mutter war die Sache klar: Ich kriegte zwar keine Luft, war aber in Sicherheit.
Autor: Vivian Gornick in «Ich und meine Mutter»

Diese Gabe hat sie mir vererbt. Ich liebte es so sehr, wenn sie Geschichten erzählte. Dann war sie einfach nur da, lebendig und mit mir in meiner Gegenwart – das war ein Geschenk.

Sie beschreiben sie auch als dominante Person.

Meine Mutter hat mich unterdrückt. Alles, was sie von mir wollte, war zu heiraten. Sie hatte keine Erwartungen an mich als berufstätige Person. Sie hat mein Schreiben nie respektiert, es hat ihr nichts bedeutet.

Video
«Meine Mutter hat das Schreiben nie akzeptiert»
Aus Kulturplatz vom 24.04.2019.
abspielen. Laufzeit 20 Sekunden.

Bis ich einen Namen hatte in New York und die Leute ihr sagten, ich sei eine gute Autorin. Erst da dachte sie, wenn die das sagen, dann muss etwas dran sein. Sie selber hat es nie gesehen. Sie wollte lediglich, dass ich Lehrerin werde, heirate und Kinder bekomme.

Was Sie nicht wollten?

Ich war in einem grossen Konflikt. Hin- und hergerissen zwischen meinen Interessen und dem, was von mir erwartet wurde. Darum wurde ich Feministin. Weil das ist es, was Feminismus ist.

Es ist die Entdeckung, dass du nicht bist, wie die Welt dich beschreibt. Deine Gedanken, deine Gefühle, deine Fantasie, dein Hunger sind anders.

Sie hatten als Mädchen andere Voraussetzungen als Buben.

Ich bin mit dem Gedanken aufgewachsen, dass dies eine Männerwelt ist. Dass Frauen nutzlos sind.

Ich habe die Männer beneidet, wie sie aufgezogen wurden. Wie sie ermuntert wurden, das Leben zu erleben, in die Welt hinauszugehen und an dem Weltgeschehen teilzunehmen.

Video
«Meine Mutter war voller Selbstmitleid!»
Aus Kulturplatz vom 24.04.2019.
abspielen. Laufzeit 57 Sekunden.

Es ärgerte mich bitterlich, dass mein Erbe ein anderes war. Dass von mir nichts erwartet wurde, weil ich ein Mädchen war. Dass ich nicht zu einem berufstätigen Menschen aufgezogen wurde.

Wie waren Sie als Tochter Ihrer Mutter?

Ich war ein intellektuell interessiertes Mädchen. Alles, was ich tun wollte, war lesen. Ich wollte nicht shoppen gehen, nicht kochen, nichts von all dem, auf das kleine Mädchen vorbereitet wurden.

Ich hatte Tagträume. Ich träumte, dass ich eine Revolutionärin bin. Eine, die vor Tausenden von Menschen redet. Dass ich schreibe und reise, davon habe ich geträumt. Nicht von der Liebe und der Ehe.

Aber?

Wir identifizieren uns mit unseren Müttern, ihre Leben sind uns Vorbild. Sie haben uns grossgezogen mit der Idee, dass Ehefrau und Mutter zu werden das einzige Bestreben, das einzige Bedürfnis eines Mädchens ist. Dass das der wichtigste Teil deiner Identität ist.

Was sollen Mütter ihren Töchtern mit auf den Weg geben?

Das Wichtigste, das man seinen Kindern mitgeben kann, ist selbst ein erfülltes Leben zu führen. Ein Vorbild zu sein!

Video
«Nicht was du sagst, was du bist»
Aus Kulturplatz vom 24.04.2019.
abspielen. Laufzeit 35 Sekunden.

Nicht, was man den Kindern erzählt, ist wichtig. Sondern wie man ist. Und wenn man sich in sich selbst zuhause fühlt, wird man netter und zärtlicher. Daran glaube ich.

Sie selber wollten nie Mutter werden?

Nur für kurze Zeit, da war ich Ende 30. Aber es hat nicht geklappt und das war's dann auch. Ich hatte nie ein grosses Verlangen nach der Ehe und der Mutterschaft.

Sie sagen, Sie schreien seit 40 Jahren den Feminismus in die Welt. Ohne Erfolg?

Ein Erfolg ist zum Beispiel, dass heute viele Frauen arbeiten. Sie haben Zeitpläne, Sitzungen, Verantwortung. Bei uns war das nicht so. Keine von uns hatte viel Verantwortung.

Mutters Worte erschrecken und erfreuen mich zugleich. Ich bin froh, wenn sie etwas Wahres oder Kluges sagt. In diesen Momenten kann ich sie beinahe lieben.
Autor: Vivian Gornick in «Ich und meine Mutter»

Und ein anderer grosser Unterschied zu früher ist die Anzahl der Feministinnen. Damals waren wir zu Tausenden unterwegs. Heute sind es Millionen. Aber unter diesen Millionen, die den Feminismus unterstützen sind viele, die zwar feministisch reden, ihn aber nicht wirklich leben. Die Angst haben davor, wenn es ums Eingemachte geht – wenn es darum geht, es umzusetzen im echten Leben.

Darum, glaube ich, braucht es für den sozialen Wandel so viel Zeit. Der Prozess ist ein langsamer, und die ganze Kultur muss sich ändern. Wir sind auf dem Weg.

Warum wird «Fierce Attachments» erst jetzt und gerade jetzt neu entdeckt in Europa?

Ich glaube die #MeToo-Bewegung hier in Amerika hat wieder ein grosses Interesse am Feminismus entfacht. Tausende von Menschen überall in der westlichen Welt machen plötzlich ihre Augen auf, sehen dass Frauen immer noch, fast so stark wie vor 40 Jahren, Bürgerinnen zweiter Klasse sind.

Nicht in allem, wir haben viel erreicht. Es wurde viel profitiert von unserem 40 Jahre langen feministischen Schreien. Und trotzdem: Die Revolution ist noch nicht gewonnen.

Ihr Buch über die Beziehung zu ihrer Mutter gilt in den USA als Klassiker der feministischen Literatur. Warum haben Sie es geschrieben – damals, Mitte der 1980er-Jahre?

Ich war eine junge Feministin und fast jede Frau meiner Generation hat angefangen zu verstehen, dass wir bis dahin die Leben lebten, die uns von unseren Müttern aufgezwängt wurden.

Schwarzweiss-Foto von einer Mutter mit ihrer
Legende: Vivian Gornick mit ihrer Mutter auf dem Buchcover der Erstausgabe von «Fierce Attachments». FSG Classics / Macmillan Publishers

Wir haben also angefangen, die Leben unserer Mütter genauer zu betrachten und uns gefragt, wieso unsere Mütter die Leben lebten, die sie lebten. Und dann haben wir unsere Beziehungen zu ihnen hinterfragt.

Da ist mir plötzlich klar geworden, dass ich über die Beziehung zu meiner Mutter ein Buch schreiben muss. Um diese Beobachtungen festzuhalten.

Wie hat Ihre Mutter auf das Buch reagiert?

Als «Fierce Attachments» 1987 herauskam, hat meine Mutter ihre Meinung über das Buch immer wieder geändert. Manchmal sagte sie: «Du erzählst die Wahrheit, ich spüre es.» Ein paar Tage später, wenn sie jemand auf das Buch angesprochen hat, rief sie mich an und sagte: «Du hast mich lächerlich gemacht! Jetzt weiss jeder, dass du mich hasst!»

Video
«Meine Mutter signierte meine Bücher»
Aus Kulturplatz vom 24.04.2019.
abspielen. Laufzeit 44 Sekunden.

Als das Buch ein grosser Erfolg wurde, lief sie durch New York und hat es signiert. Ich sagte: «Mum, du kannst es nicht signieren, du hast es nicht geschrieben.» Da sagte sie: «Ohne mich gäbe es dieses Buch nicht.»

Ihre Mutter starb vor 20 Jahren.

Ja, und von dem Tag an, an dem sie starb, bis heute, sehe ich sie. Auf der Strasse. Plötzlich sehe ich jemanden und denke: Das ist Mama! Sie ist irgendwie immer mit mir. Wir waren sehr verwickelt miteinander.

Buchhinweis

Box aufklappen Box zuklappen

Vivian Gornick: «Ich und meine Mutter», Penguin Verlag, 2019.

Vermissen Sie sie?

Nein, ich vermisse sie nicht. Ich habe ihre Gegenwart nie genossen. Es war immer schmerzlich. Schmerzlich und schwierig. Ich war jedoch extrem mit ihr verbunden. Ja. Das sind keine einfachen, das sind komplizierte Gefühle.

Das Gespräch führte Sibilla Semadeni.

Meistgelesene Artikel