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Aus Perspektiven vom 18.02.2018. Bild: Getty Images
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Vom Glauben abfallen Eine junge Frau beschliesst, Hosen zu tragen

Wer in Israel die ultra-orthodoxe Gemeinschaft verlässt, gilt in den Augen der Familie oft als gestorben. Die 24-jährige Jüdin Ayelet hat den Ausstieg trotzdem gewagt.

Ayelet hat alles hinter sich gelassen: ihre Familie, ihre Freunde – ihr komplettes Leben in der ultra-orthodoxen Gemeinde. Noch ist ihr neuer Alltag draussen wackelig, aber sie will nie wieder zurück in die Enge des ultrafrommen Milieus.

Zum ersten Mal in Hosen schlüpfen

Ayelet lebt heute mit ihren Kindern in einer günstigen Wohnung, anderthalb Stunden ausserhalb von Jerusalem. Die Wohnung hat ihr die Hilfsorganisation Hillel vermittelt. Auch ihren Ausbildungsplatz und die psychotherapeutische Begleitung bekam sie mit Hilfe von Hillel.

Und ohne diese Unterstützung? Sie wisse nicht, ob sie dann überhaupt noch leben würde, sagt Ayelet.

Sogar sämtliche Kleidungsstücke seien von der Hilfsorganisation. «Nicht nur die Hosen», lacht sie. Schwer vorzustellen, dass diese moderne junge Frau mit Jupe, flachen ausgelatschten Schuhen und altmodischen Strumpfhosen gross geworden ist und zum ersten Mal in der Kleiderkammer der Hilfsorganisation in eine Hose schlüpfte.

Frauen und Kinder stehen im Schnee und lachen.
Legende: Traditionell tragen ultra-orthodoxe Frauen lange Röcke und langärmelige, hochgeschlossene Blusen oder Pullover. Getty Images

Wer nicht mitmacht, muss gehen

Tatsächlich geht die Loslösung von einer ultra-orthodoxen Familie und Gemeinde ans Existenzielle. Menschen wie Ayelet verlassen die einzige Welt, die sie kannten, und stehen erstmal alleine da.

Wer sich nicht mehr an die strikten religiösen Regeln halten, den Worten des Rabbis folgen, die Reinigungsvorschriften einhalten und noch mehr Kinder in die Welt setzen will, wird von der Gemeinschaft ausgeschlossen.

Bitterer Preis für die Freiheit

Das gesamte Beziehungsnetz, die Familie, das Zuhause brechen damit weg. Was vorher den Alltag von A bis Z regelte, gibt es nicht mehr. Das ist für die Aussteigenden zwar die Befreiung, die sie suchten. Aber der Weg dahin ist hart. Und schmerzhaft.

In manchen Familien wird für Abtrünnige sogar das Totengebet gesprochen und Trauerriten vollzogen. Die Person ist für die streng religiöse Familie «gestorben».

Ein Leben ohne Gott?

Hier fängt das Netzwerk von Hillel auf. Seit 27 Jahren unterhält die NGO eine Telefon-Hotline, die erste Anlaufstelle für Aussteigewillige. Hillel organisiert ein erstes Zuhause, etwa in einer WG mit anderen Ex-Frommen.

So ist auch Ayelet an Schabbat nicht allein, sondern verbringt ihn ganz säkular mit neuen Freunden. Von Religion will die 24-Jährige, wie die meisten Aussteiger, nichts mehr wissen. Ihr Judentum lebt sie jetzt säkular, ohne Gott.

Jüdische Identität ohne Religion – das geht in Israel ohne Probleme. Dort kann jeder und jede die jüdische Fasnacht Purim ausgelassen bei einer Strassenparade feiern. In die Synagoge muss man dafür nicht.

Zwei Frauen in bunten Kostümen laufen die Strasse herunter.
Legende: Purim wird auch von weniger religiösen Juden gefeiert: In Tel Aviv mit einer grossen Parade. Reuters

Smartphone statt Tora

Mit ihrem Ausstieg aus dem orthodoxen Milieu betreten die Ex-Religiösen eine fremde, nämlich die säkulare Welt. Internet, Fernsehen, Smartphones, Fremdsprachen oder moderne Berufe kannten sie bis dahin nicht.

Das bisherige Leben hatte bei den Männern hauptsächlich aus dem Studium von Tora und Talmud bestanden. Junge Frauen wie Ayelet werden im ultra-orthodoxen Milieu fast ausschliesslich auf ihre Mutterrolle vorbereitet. Und die beginnt meist mit 18 Jahren.

Krise in der ultra-orthodoxen Welt

Der Journalist Avishai Ben Chaim meint, dass einer von zehn Ultra-Orthodoxen sein Milieu in Richtung moderner Welt verlässt. Das offenbare gleich mehrere Krisen innerhalb der ultra-orthodoxen Gemeinschaft.

Zum einen ist da der Verlust an spiritueller Führung: Einige der charismatischen Rabbiner, etwa Harav Elyashiv und Harav Ovadia, sind unlängst gestorben. Nachfolger mit Charisma sind keine in Sicht.

Mit dem Verlust solcher religiöser Autoritäten können viele nicht gut umgehen. Sie wurden dazu erzogen, mit jeder noch so kleinen Frage zum Rabbiner zu gehen. Eigenständiges Entscheiden ist unerwünscht.

Zum anderen ist die Armut der kinderreichen Familien besonders bedrückend. Die Mehrheit der ultra-orthodoxen Familien lebt unter der Armutsgrenze und von staatlicher Sozialhilfe.

Zwei Kinder spielen, ein Mädchen hält eine Plastikwaffe in der Hand.
Legende: Die Einflüsse des modernen Lebens werden in der ultrafrommen Gemeinde immer stärker. Getty Images

Abschottung wird immer schwieriger

Ausserdem lockt die säkulare Gesellschaft mit den Segnungen der Moderne. Durch das Internet nehmen die Ultra-Orthodoxen davon mehr und mehr Kenntnis.

Das Internet sei wohl die grösste Bedrohung für das einst so abgeschottete Leben der Ultra-Orthodoxen, betont der Journalist Ben Chaim.

Auch wurden einige Fälle von sexuellem Missbrauch in den ultra-orthodoxen Gemeinschaften publik. Krasse Fälle von Vernachlässigung, vor allem von Mädchen, schreckten viele Menschen auf. Diese moralische wie materielle Krise der ultra-orthodoxen Gemeinschaften ist unübersehbar.

Druck von aussen

Auch der Druck von aussen auf die fromme Gemeinschaft wächst. Die israelische Mehrheitsgesellschaft ist nicht mehr bereit, den Kinderreichtum der Frommen mitzufinanzieren.

Sie fordert von den Ultra-Orthodoxen die Integration in Arbeitswelt und Armee. Auch sie sollen ihren Beitrag an Sicherheit und Bruttosozialprodukt Israels leisten.

Ein Mann studiert die Thora.
Legende: Gegen 70 Prozent der ultra-orthodoxen Männer gehen keiner Bezahlarbeit nach, sondern studieren täglich den Talmud. Getty Images

Ein freieres Leben lockt

Wer einmal aus dem ultra-orthodoxen Umfeld heraus ist, die Freiheiten und ein bisschen mehr Wohlstand kennengelernt hat, der ist bald versucht, das strenge Korsett des ultra-orthodoxen Lebens ganz abzulegen.

So auch die junge Mutter Ayelet: Sie ist zwar noch nicht über den Berg, sagt sie. Wie viele nimmt sie psychologische Hilfe in Anspruch, und kann sich und ihre Kinder noch nicht selber finanzieren. Aber zurück will sie auf keinen Fall.

Sie will selbstbestimmt leben. Gott ist dabei für sie keine Option. Auch eine liberale jüdische Frömmigkeit interessiert sie nicht. «Nein», sagt Ayelet. «Gott existiert nicht.» Und sie brauche ihn auch nicht mehr.

*Name geändert

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