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Ist Lügen vertretbar? Wir haben auf der Strasse nachgefragt. Und überraschende Antworten bekommen.
Aus Kultur Webvideos vom 25.02.2021.
abspielen. Laufzeit 2 Minuten 54 Sekunden.
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Wann darf man lügen? Lügen macht uns gewitzt und umgänglich

Lügen findet wohl niemand gut. Doch die Wissenschaft sieht in der Fähigkeit zu flunkern durchaus positive Aspekte. Sie soll uns schlau und kreativ machen.

Menschen lügen ständig. Nicht nur aus niederen Motiven, wie die Lügenforschung weiss: «Wenn wir dem Partner oder der Partnerin sagen: ‹Du siehst gut aus heute›, obwohl wir das gar nicht finden, ist das zwar gelogen, aber nett gemeint.»

Philipp Gerlach, Psychologie-Professor an der Hochschule Fresenius in Hamburg, hat Lügen studiert und hunderte Forschungsberichte, Untersuchungen und Experimente analysiert. Er weiss, wer wann warum lügt.

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Philipp Gerlach erklärt, wann und warum wir lügen
aus Kontext vom 23.02.2021. Bild: IMAGO / agefotostock
abspielen. Laufzeit 17 Minuten 27 Sekunden.

Schwarze und weisse Lügen

«Lügen ist, wenn wir wissentlich die Unwahrheit sagen und davon ausgehen, der andere glaubt uns. Deshalb ist Lügen etwas, das sich stark zwischen Menschen abspielt. Es braucht einen Sender und einen Empfänger.»

Wir lügen aus Verlogenheit, Feigheit oder um uns Vorteile zu verschaffen. Aber wir lügen auch aus Freundlichkeit oder um uns gut zu stellen mit anderen. «Die Wissenschaft nennt das schwarze oder weisse Lügen.» Dazwischen gebe es alle möglichen Schattierungen, so der Lügenforscher.

Mit Lügen Schrott andrehen

Manchmal ist der Fall aber klar: «Wenn der Garagist ein Occasion-Auto, das diverse Crashs überstanden hat, als unfallfrei anpreist, ist das eine schwarze Lüge. Ebenso, wenn die Finanzberaterin Schrott-Aktien als sichere Anlagen verkauft.»

Ein kaputtes Auto mit einer rosa Schleife drumherum. Ein Mann steht daneben und hält den Daumen nach oben.
Legende: Manchmal sind schwarze Lügen leicht zu erkennen – auch wenn sie noch so schön verpackt sind. Sandra Bayer

Das Kompliment an die Partnerin mit der verhauenen Frisur sei dagegen eine weisse Lüge, so Philipp Gerlach. «Das Gleiche gilt für den Fussballkollegen, der mir versichert, dass alles halb so wild ist – obwohl ich das entscheidende Tor versemmelt habe.»

Lügen und Schönreden glätten unsere sozialen Beziehungen. Würden wir uns gegenseitig immer wahrheitsgetreu sagen, was wir gerade denken – das würde keine Beziehung aushalten.

Eine Frau mit schräg abrasierten Haaren. Der Mann daneben zeigt mit dem Daumen nach oben.
Legende: Lügen helfen dabei, unsere sozialen Beziehungen zu kitten. Auch im Falle von Frisuren-Fails. SRF / Sandra Bayer

Die Schattenseiten des Graubereichs

Doch wer andauernd lügt, verspielt die wichtigste Währung zwischen uns Menschen: Vertrauen. Für schwarze Lügen gilt das sowieso.

Auf lange Sicht haben aber auch weisse Lügen ihre Schattenseiten: «Wenn ich, um den Frieden zu wahren, nie die Wahrheit sage, geht das auf Dauer nicht gut. Wenn ich meine Partnerin nicht mehr attraktiv finde oder mich schon länger unwohl fühle in der Beziehung, das aber nie anspreche, verspiele ich das Vertrauen.»

Ein Mann legt den Arm um eine Frau, die neben ihm auf einer Bank sitzt. Daneben liegt ein Fussball.
Legende: Auch eine weisse Lüge: Wenn ich das Fussballspiel verpatze und der Mannschaftskollege mir versichert, dass alles halb so wild ist. SRF / Sandra Bayer

Unsere Lügenkarriere

Die richtige Dosierung beim Lügen zu finden ist also gar nicht so einfach. «Wie häufig wir lügen, kommt auf unser Alter, das Geschlecht, die Lebensumstände und unsere Charaktereigenschaften an», erklärt der Lügenforscher.

Seine Metastudie, Link öffnet in einem neuen Fensterim Browser öffnen zeigt: Am meisten lügen wir als junge Erwachsene. Mit zunehmendem Alter wird das Flunkern, Tricksen und Schönreden seltener.

Statistisch gesehen lügen Männer etwas häufiger als Frauen. «Der Unterschied ist klein, aber er besteht», so Philipp Gerlach. «Männer neigen stärker zum schwarzen, also schädigenden Lügen. Frauen dagegen greifen häufiger zu weissen Lügen, um sich mit anderen besser zu stellen.»

Lügen will gelernt sein

Menschen sind keine geborenen Lügner. Erst zwischen drei und fünf Jahren lernen wir zu lügen. «Ganz kleine Kinder können das noch nicht», erklärt Psychologe Gerlach.

Die Wahrheit zu umgehen, erfordert nämlich einiges an Kognition und Sprachfertigkeit. «Wir merken allmählich: Was ich weiss, wissen andere womöglich nicht. Im Kindergarten realisiere ich etwa, dass die Leiterin nicht weiss, dass ich mit dem Gspänli in der Spielecke gestritten habe, wenn sie nicht dabei war.» Also unterschlagen wir ihr einfach, den Streit angefangen zu haben.

Ein Kind zeigt mit dem Finger auf ein anderes Kind das auf dem Boden sitzt.
Legende: Wenn wir realisieren, dass nicht alle gleich viel wissen wie wir, fängt unsere Lügenkarriere an. SRF / Sandra Bayer

Kreative Köpfe können es besonders gut

Wenn wir die Kunst des Lügens mal gelernt haben, lassen wir nicht mehr davon ab: Wir lügen, was das Zeug hält – von der kleinen Schummelei bis zum grossen Betrug.

Einige sind besonders gut darin, das Blaue vom Himmel zu erzählen. «Erfolgreiche Lügnerinnen und Lügner haben ein gutes Gespür dafür, was andere hören wollen», so der Lügenforscher.

«Das hat mit Einfühlungsvermögen und Vertrauen zu tun. Aber auch mit Intelligenz und Kreativität.» Es sei nachgewiesen, dass kreative Menschen überdurchschnittlich häufig lügen.

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Anleitung zum ethischen Lügen
aus Kontext vom 23.02.2021. Bild: IMAGO / Science Photo Library
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Lügen als Wetzstein der Intelligenz

Das Lügen hat einen schlechten Ruf. Dabei ist die komplexe Fähigkeit ein Meilenstein in der kognitiven Entwicklung des einzelnen Menschen, aber auch der Menschheit.

Es gibt Theorien, wonach die Intelligenz des Menschen sich im Laufe der Evolution auch deshalb so entwickelt hat, weil wir immer raffinierteren Lug und Trug erfanden. Die Tricksereien wiederum triezten unsere Gehirne, bessere Lügendetektoren zu entwickeln.

Philosophie der Lüge: 3 Fragen an Yves Bossart

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Ein Mann mit runder Brille grinst in die Kamera.
Legende: SRF / OSCAR ALESSIO

SRF: Was sagt die Philosophie zum Lügen?

Yves Bossart: Es gibt zwei Richtungen. Die strenge nach Augustinus und Kant sagt: Lügen ist verboten. Immer.

Pragmatiker wie Aristoteles, Machiavelli oder Nietzsche dagegen sehen das Lügen entspannter.

Wie werden die Positionen begründet?

Die Hardliner sagen, dass jemand, der lügt, das Vertrauen des anderen missbraucht. Er bricht das Versprechen, von dem wir alle stillschweigend ausgehen: Was mein Mitmensch mir erzählt, stimmt.

Die Pragmatiker sagen, dass wir aus Notwehr und Nothilfe lügen dürfen. Also, wenn wir oder jemand anderes an Leib und Leben bedroht sind.

Ebenfalls vertretbar sind fürsorgliche Lügen: Wenn wir jemandem die Wahrheit nicht zumuten möchten. Etwa, weil er oder sie todkrank ist.

Das ist allerdings umstritten, weil wir uns damit über den anderen und seine Selbstbestimmung hinwegsetzen. Die Person muss eigentlich selbst entscheiden können, ob sie das wissen will oder nicht.

Dann sind Alltagslügen – auch die nett gemeinten – verwerflich?

Was man als fürsorgliche Lüge versteht, ist interpretationsabhängig. Neben Aufrichtigkeit gelten ja auch Anstandsregeln von Höflichkeit und Rücksicht.

Generell gilt aber schon: Wer lügt, braucht einen guten Grund. Nur, was so ein Grund sein kann, darüber gehen auch in der Philosophie die Meinungen auseinander.

Yves Bossart ist Philosoph und Autor. Er moderiert die Sendung «Sternstunde Philosophie».

Tierische Tricksereien

Judith Burkart ist Professorin für evolutionäre Anthropologie an der Universität Zürich. Sie beobachtet immer wieder, wie Affen einander Bären aufbinden: «Wenn ein rangniedrigeres Tier dem Chef der Gruppe eine Leckerei abjagen möchte, stösst es einen spezifischen Warn-Schrei aus, der sagt: ‹Achtung, Schlange!› Auch dann, wenn weit und breit keine Schlange zu sehen ist.»

Ein Affe isst eine Banane. Ein anderer zeigt nach rechts und weist auf eine Schlange hin.
Legende: Auch Tiere können täuschen. Zum Beispiel, wenn sie sich davon etwas zu Essen erhoffen. SRF / Sandra Bayer

Oder wenn ein rangniedriges Tier ein Futterversteck kennt, von dem die anderen in der Gruppe nichts wissen. Dann lernt das «wissende» Tier mit der Zeit Ablenkungsmanöver: Es rennt nicht sofort zum Futterversteck, sondern läuft erst ein bisschen in der Gegend herum, scheinbar desinteressiert, damit die anderen Affen ihm das Leckerli nicht gleich streitig machen.

Tiere kennen Täuschungsmanöver. «Je grösser die Gehirne, desto häufiger die Tricksereien», so die Anthropologin. Von Lügen würde sie aber trotzdem nicht sprechen: «Dazu braucht es eine ausdifferenzierte Sprache – und die haben Tiere nicht.» Auch weisse Lügen gebe es bei Tieren nicht.

Zwei Affen sitzen auf einem Stein. Ein anderer Affe hat einen Strauch Bananen unter Blättern versteckt.
Legende: Ist da was? Affen können Desinteresse vortäuschen, damit andere Tiere verstecktes Futter nicht bemerken. SRF / Sandra Bayer

Tiere unterstellen einander nichts

Noch etwas unterscheidet unser Lügen von tierischen Täuschungen: «Menschen sind gut darin, anderen Motive zu attribuieren», so die Kognitionsforscherin.

«Wir versuchen, uns in die Köpfe anderer hineinzuversetzen, um herauszubekommen, was sie denken und wissen.» Für unsere Fähigkeit zu lügen sei das entscheidend. Bei Tieren sei es hingegen fraglich, ob sie das könnten.

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Wie Tiere sich gegenseitig täuschen
aus Kontext vom 23.02.2021. Bild: IMAGO / Shotshop
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Wenn der Affe einen Schlangen-Warnruf absetzt, sei das Mittel zum Zweck: «Die Frage ist, was dabei im Affenkopf vorgeht. Überlegt er sich wirklich, ob der andere beim Schlangenruf erschrickt und wegläuft – und die Leckerei vor Schreck liegen lässt? Das wäre die menschliche Lesart», so Judith Burkart.

Was geht vor im Katzenkopf?

Ein anderes Beispiel für diese menschliche Interpretation: «Stellen Sie sich vor, Sie sitzen auf einem Stuhl, auf dem auch Ihre Katze gerne liegt. Plötzlich signalisiert der Vierbeiner Ihnen, dass er raus möchte. Als Sie aufstehen, springt die Katze auf den Stuhl und macht es sich bequem.»

Ein Trick? Nicht unbedingt. «Vielleicht hat sich bloss eine oft gemachte Erfahrung verfestigt oder es ist purer Zufall», erklärt die Expertin. Menschen würden dazu neigen, anderen Motive zu unterstellen – auch Tieren.

Eine Frau sitzt auf einem Sofa. Ihre Katze schleicht um die Türe herum.
Legende: Auch wenn manche Katzenbesitzerinnen sicher anderer Meinung sind: Mutwillig veräppeln uns die Vierbeiner nicht unbedingt. SRF / Sandra Bayer

Der Mensch – das Tier, das lügen kann

Andere hinters Licht zu führen ist womöglich kein Alleinstellungsmerkmal des Menschen. Komplizierte Lügengeschichten zu erfinden hingegen schon. Menschen haben die Möglichkeit, sich mitzuteilen.

Wer seine Umgebung mit Worten beschreiben kann, kann auch ausschmücken, weglassen oder erfinden. Unsere Sprache ist derart ausdifferenziert, dass sie alles möglich macht: Lug und Trug, Erfindung und Wahrheit. Und die ganz grossen Geschichten.

Manchmal lassen wir uns auch gerne belügen. Grandios erzählte Geschichten sind oft gelogen. Wobei nicht immer klar ist, ob wir von unseren Erfindungen nicht irgendwann selbst überzeugt sind.

Aus Lügen werden Geschichten

Psychologe Gerlach verweist auf unser selektives Gedächtnis: «Nehmen wir die Anglerin, die ihren Freunden vom formidablen Fang erzählt und den Fisch bei jeder Erzählung grösser werden lässt.» Experimente zeigen, dass wir wie die Anglerin mit der Zeit selber an unsere Übertreibungen glauben.

Auch die Zuhörerenden haben etwas davon. Sie kommen in den Genuss einer guten Geschichte. Oder wie Lügenforscher Gerlach es formuliert: «Manchmal ist es eben gar nicht so klar, wo die weisse Lüge aufhört und die schwarze anfängt. Es gibt auch Lügen, die machen Spass, sind unterhaltsam oder eine Bereicherung. Ungelogen!»

Radio SRF2 Kultur, Kontext, 24.02.2021, 09:02 Uhr.

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