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Strassenumfrage: So flucht die Schweiz heute
Aus Kultur Webvideos vom 02.05.2019.
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Wüste Wörter im Wandel «Figg dini Mueter, du Opfer!»

Früher war auch nicht alles besser. Aber hat man nicht wenigstens anständiger geflucht? Eine kleine Sprachgeschichte.

Lassen Jugendliche heute richtig Dampf ab, dann tönt das vielleicht so: «Figg dini Muetter, du Opfer!». Oder: «Das isch sone Pussy, Alte, sone Missgeburt!» Oder: «Min Futz het Schluss gmacht, die huere Bitch!»

Das ist sie, die Apokalypse, denkt sich der unbedarfte Erwachsene.

Sexualisierung der Fäkalsprache

Aber natürlich reden nicht alle unter 25 so – und wenn, dann nur untereinander. Dennoch hat sich das Repertoire an wüsten Wörtern in den vergangenen Jahrzehnten offensichtlich gewandelt.

Vor allem Anglizismen aus dem Sexualwortschatz wie «fuck», «Pussy» (meint: Weichei) oder eingedeutscht «verfickt» ersetzen langsam die älteren Tabu-Wörter aus der Fäkalsprache wie «Arschloch», «läck mer am Arsch» oder «Schissdräck».

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Sprachwissenschaftler: «Cheib ist das häufigste Schweiz Fluchwort»
aus Kultur-Aktualität vom 02.05.2019. Bild: zvg
abspielen. Laufzeit 4 Minuten 9 Sekunden.

Es zählt die Schockwirkung

Das Sprachregister «wüste Wörter» hat seine eigenen Regeln. Die Wichtigste ist der «Impact»: die Schockwirkung also, die beim Establishment des guten Geschmacks erreicht wird.

Das war zu allen Zeiten so. In den 1970er-Jahren wackelten der Elterngeneration die Ohren, wenn der Bub den Klassenbesten einen «Wichser» oder die nervige Schwester eine «dummi Fiige» schimpfte.

Das unaussprechliche «Chüeghejer»

Jede Zeit hat ihre eigenen Wörter mit Schockwirkung. Eine der schlimmsten Beleidigungen im 16. Jahrhundert war «Chüeghejer» - so beschimpften etwa die Süddeutschen im Schwabenkrieg die gegnerischen Schweizer.

In heutiger Mundart bedeutet «gheje» ganz neutral «fallen». Damals aber war es ein wüstes Wort für «Unzucht treiben». «Chüeghejer» meinte also wörtlich «Kuhficker».

Die Zungensünden

Wer trotzdem findet, die sexualisierte Sprache der Teenies passe nicht zu unserer Sprachtradition, der schaue sich die obszöne Schimpfkultur des 16. Jahrhunderts genauer an.

Der Germanist Andreas Lötscher nennt in einem Aufsatz aus dem Jahr 1980 die zwei zentralen Wörter «zërs» (vulgär für Penis) und «fut» (vulgär für Vagina), die fast beliebig kombiniert wurden.

Etwa, wenn einer als «zers futt diep» (Schwanzfotzendieb) beschimpft wurde. Als Steigerung kam die blasphemische Note hinzu, etwa in Verwünschungen wie «daz dich gotz scheiss schend» (dass dich Gottes Scheisse versehre) und, etwas verhüllt, «dass inn bogs zers schante» (dass ihn Gottes Schwanz versehre).

Kein Wunder, wurden Schimpfen, Fluchen, Beleidigen, Verleumden und Verspotten damals die «Zungensünden» genannt. Im Vergleich wirken unsere «fuck you!» geifernden Teenies wie Sonntagsschüler.

Rückkehr des Archaischen

Wenn wir heute also das Gefühl haben, die wüste Sprache im Internet und bei den Heranwachsenden überschreite alle Grenzen, dann ist das vielleicht bloss die Rückkehr des Archaischen, wie es im Spätmittelalter gang und gäbe war.

Diese Erkenntnis machts für die besorgten Eltern zwar nicht besser. Sie nützt aber vielleicht gegen das Gefühl der nahenden Apokalypse.

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