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So sagt er es den Schülern (Tips für Sie, 27.02.1971)
Aus Kultur Extras vom 10.02.2016.
abspielen. Laufzeit 11 Minuten 41 Sekunden.
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Der Archivar «Wie sagt man noch zu ‹Schnäbi›?»

27. Februar 1971. Die Sendung berichtet über einen Lehrer in Thalwil. Der unterrichtet Sexualkunde. Ein Novum damals. Und er macht das gut. Kein Sturmlauf geht los, eher macht sich Erleichterung breit. Wie schwierig ist doch die natürlichste Sache der Welt!

Links für Lehrpersonen

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  • Internetportal zur Förderung der Gesundheitskompetenz. Mit didaktischen Unterlagen zum kostenlosen Download für Lehrpersonen zum Thema Liebe und Sexualität.
  • Internetseite des Vereins Sexuelle Gesundheit Schweiz. Mit Shop für Broschüren, mit weiterem Infomaterial und mit einer Suchfunktion zum Finden von Fachstellen in Ihrer Region.

Der Lehrer in Thalwil macht das gut. Er «integriert», würde man heute sagen, die Sexualkunde in andere Fächer. Er nutzt Schwimmen und Turnen, um über den Körper zu sprechen. Und er beginnt bei der Sprache. Wie sagt man überhaupt sonst noch zu «Menstruation»? Zu Penis, Vagina?

Damals 1971 ist das revolutionär. Und es gibt keinen Sturmlauf gegen den Herrn Eggenberger aus Thalwil, nein, im Gegenteil. Bei allen Umfragen scheinen alle erleichtert, von den Eltern, über die Schülerinnen bis hin zum Schulpräsidenten. Alle finden, er macht’s gut. Man müsse Bescheid wissen.

Wie schwierig das Thema ist, zeigt ein anderer Beitrag – trostlos: Bei einer Strassenumfrage fragt die Interviewerin einen Mann, ob er seine Kinder aufgeklärt habe. «Ja, so in etwa», sagt er, er habe «seiner Tochter ein Aufklärungsbuch auf den Nachttisch gelegt und sie nach ein paar Tagen gefragt, ob sie es gelesen habe. Sie habe «Ja» gesagt.» Fall erledigt.

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Sex um sechs (Tips für Sie 18.09.1971)
Aus Kultur Extras vom 10.02.2016.
abspielen. Laufzeit 28 Minuten 46 Sekunden.

Und heute?

Zur Person

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Marie-Lou Nussbaum ist Pädagogische Psychologin, Sexualpädagogin und Dozentin für Sexuelle Bildung und schulische Sexualerziehung PH Bern.

Ihre «Sprechstunde Geschlechtervielfalt» am Inselspital Bern ist ein Beratungsangebot für Intergeschlechtliche und Transidente Kinder und Jugendliche.

Marie-Lou Nussbaum ist Sexualpädagogin und Dozentin für Sexuelle Bildung und schulische Sexualerziehung. Sie arbeitet seit Jahren mit Schülern und Lehrpersonen. Wenn man sie fragt, wo wir heute stehen, kommen verblüffende Antworten!

Die gesetzliche Situation sei zwar mittlerweile durchgehend geregelt (anders als noch 1971). Das Thema ist auch bereits in den aktuell geltenden Lehrplänen integriert. Heute gebe es kein eigenständiges Fach «Sexualkunde», das Wort finde sie sowieso «unglücklich». Das löse «Fantasien aus, die völlig unbegründet» seien. Zudem gingen Viele von falschen Annahmen aus, wie etwa Sexualkunde beginne im Kindergarten. Das sei Quatsch: «Keine Lehrperson würde Sexualaufklärung mit Kindergärtnern machen.»

Da gehe es um andere Dinge, wie etwa um Körperaufklärung: So wie jeder Mensch ein Knie habe, habe eben die Hälfte der Menschheit in der Mitte was Unterschiedliches. Was für Kindergärtner viel wichtiger sei, sei ein Sprechen über «Gefühle und Geheimnisse». Es gebe «auch schlechte Geheimnisse», sagt Nussbaum: «Es ist hier die präventive Funktion des Unterrichts, Übergriffen und sexueller Ausbeutung vorzubeugen.»

Links für Jugendliche

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  • Internetportal für Jugendliche zwischen 12 und 17 Jahren mit vielen Infos rund um die Themen Körperaufklärung, Liebe und Sexualität.
  • Anonyme Onlineberatung und Information rund um Sexualität, Gewalt, Beziehungen, Frauen- und Männerthemen.

Oversexed and underfucked

Sekundarschüler wachsen heute mit einer schreienden Präsenz von Sexiness auf: Werbung, Musikclips, Castingshows. (Wer «Little Miss Sunshine» gesehen hat, weiss, was gemeint ist.) Tabuthema also erledigt? Tests mit deutschen Schülern und Schülerinnen zeigen, dass Fragen über Geschlechtsorgane nicht richtiger beantwortet werden als früher. Oder: Wie geht das mit der Empfängnis? Wird gerne falsch beantwortet. Auf der einen Seite also Porno im Web – auf der anderen: wenig Ahnung. «Ein riesen Kontrast», sagt Nussbaum.

Die Omnipräsenz von Sexiness helfe auch wenig. Was, wenn ich dem nicht entspreche? Das Resultat sei eher Verunsicherung: Nussbaum erzählt von einer Schülerin, die fragte, was sie denn «beim ersten Mal machen müsse: N Porno abelooo?» Nimmt man das ernst, könnte man heulen.

Muss ich das machen?

Bei älteren Schülern kämen heute explizitere Fragen zu Sexualtechniken. Aber auch da sei viel Irritation: Was mache ich, wenn ich das nicht mag? Muss ich das machen?

Marie-Lou Nussbaum, brünett, hornfarbene Brille.
Legende: «Intimität und Liebe sind noch immer sensible Themen», sagt Marie-Lou Nussbaum. ZVG

Blöd daherreden fiel immer leicht, aber in der Schule ernsthaft darüber sprechen, können nicht mehr Jugendliche als früher. Über «die Jugend» seien auch erstaunlich viele falsche Annahmen unterwegs wie etwa, die seien sexuell viel aktiver als früher. Das lasse sich nicht belegen, sagt Nussbaum. «Das erste Mal» sei vom Alter her noch immer da, wo es immer war, die Nervosität damit sei nicht gesunken. Woher auch. Themen, die mit Sexualität verbunden sind, nämlich Intimität und Liebe sind noch immer sensible Themen.

Heute sei vielmehr hinzugekommen, dass sich Identitätsfragen damit verbinden: «Wie ist man erfolgreich, wenn man so aussieht wie ich?», zitiert Nussbaum eine Schülerin. Die Leistungsgesellschaft ist beim Körper angekommen.

Über all diese Themen berichtete auch der Themenschwerpunkt von SRF MySchool unter dem Titel «Erste Liebe».

Alle Tabus sind erledigt? – Pustekuchen

Links für Eltern

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  • Internetplattform der Dachorganisation «Sexuelle Gesundheit» mit Infobroschüren, Onlineshop und einem Verzeichnis von Beratungsstellen.

Der Lehrer aus den 1970er-Jahren mache einen guten Job, auch heute noch, sagt Nussbaum, denn er beginnt bei der Sprache. Wie drückt man SICH überhaupt aus? Für die eigene Sexualität Worte finden, sei heute noch genauso schwierig. Nicht nur bei Schülern. Die sexualtherapeutischen Praxen seien voll, das gehe auch gestandene Erwachsene in jahrelangen Beziehungen an.

Marie-Lou Nussbaum bringt es auf den Punkt: «Wir sind heute nicht weiter, wir sind woanders.»

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