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Kultur - Gratis So süss – oder nervig? Japans Kinder sind den Rentnern zu laut

Japan hat die am schnellsten alternde und schrumpfende Bevölkerung der Welt. Deshalb fördert der Staat das Kinderkriegen – zum Leid mancher: Denn viele Rentner sind die lauten Kinderstimmen nicht mehr gewohnt. Sie kämpfen immer häufiger gegen den Bau von Kindergärten in ihrer Nachbarschaft.

Glockenhelle Stimmen schallen aus einem Kindergarten in der japanischen Grossstadt Yokohama. Die kräftige Lautstärke zeigt, dass die Kinder fröhlich und gesund sind. Doch viele Anwohner sind anderer Meinung. «Der Lärm ist einfach nicht zu ertragen», sagt ein Rentner aus der Nachbarschaft. Eine alte Frau findet die Kindergeräusche einfach «nur nervig».

Welt im Wandel

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Die Arme-Leute-Frucht Brasiliens, die zur Trendfrucht wird, das römische Traditionsviertel, das sich zu Chinatown wandelt und verstummende Kindergeräusche in Japan: Die Welt verändert sich. Das zeigt sich oft in kleinen und alltäglichen Dingen.

Die Korrespondenten-Geschichten aus aller Welt vom 5.1. an auf Radio SRF 2 Kultur täglich um 16:45 Uhr.

Japaner sollen Kinder kriegen

Dieser Ärger ist gerade in vielen Metropolen in Japan zu beobachten, wie in einer Sendung des japanischen Senders NHK berichtet wurde. Die Regierung fördert neuerdings den Bau von Tagesstätten und Kindergärten. Damit will man es jungen Müttern erleichtern, schon kurz nach der Geburt wieder arbeiten zu gehen. Zudem will der Staat durch das vergrösserte Betreuungsangebot junge Paare zum Kinderkriegen ermutigen. So werden im Tokioter Stadtteil Setagaya in den nächsten vier Jahren 70 bis 80 neue Betreuungszentren für 6500 Kinder errichtet.

Vielerorts wehren sich die Anwohner gegen die Neubaupläne. Nach jahrelangem Streit geht ein Kindergarten im Stadtteil Nakano im April in Betrieb. Eine Rentnerin fürchtet sich schon heute: «Was ist, wenn ich krank bin oder im Sterben liege und es draussen so laut ist?» Viele Nachbarn rechnen mit Ruhestörungen. «Ich kann doch nicht zu Dutzenden von Kindern ‹Pssst› sagen», jammert eine Frau.

Wenn Fenster und Wände nichts nützen, richtet's das Gericht

Einige empörte Bürger sind schon vor Gericht gezogen. Eine Familie in Tokio verklagte eine Tagesstätte auf umgerechnet 140'000 Franken Entschädigung für den Stress durch Kinderlärm. In Kobe hängten Nachbarn Plakate mit Totenköpfen auf, um die Kinder zu erschrecken. In einem anderen Fall drohte ein Anwohner mit Gewalt. Deshalb verringern viele Tagesstätten ihre Lautstärke so gut es geht.

Die Kinder dürfen teilweise nur 45 Minuten täglich draussen spielen. Doppelfenster und dicke Wände sollen die hellen Stimmen dämpfen. Vorhänge und Jalousien werden zugezogen, damit die Kinder unsichtbar bleiben. Das sei Stress für die Kinder, warnt Ineko Tanaka von der Universität Yokohama: «Es gehört zu ihrem Wachstum dazu, ihre Sinne zu entwickeln.» Die Einschränkungen seien negativ für ihre Entwicklung.

Die Rentner wollen ihre Ruhe

Ein Kindergarten mit zwei Verbotsschildern.
Legende: Schon am Eingang wird den Kindern der Spass verdorben: Laute Stimmen und Ballspielen sind verboten. Martin Fritz

Eine Ursache für die Kinderfeindlichkeit ist die Überalterung der Gesellschaft in Japan. 26 Prozent der Japaner sind im Rentenalter, nur halb so viele unter 15 Jahre alt. Während die Wohnviertel früher tagsüber wegen der vielen Pendler wie ausgestorben waren, sitzen heute viele Rentner zuhause und wollen ihre Ruhe haben.

Ein zweiter Grund: Kinder wachsen anders auf. Seit einigen Jahren seien Kinder in Japan tagsüber entweder in irgendeiner Einrichtung oder zu Hause, meint Isami Kinoshita von der Universität Chiba: «Sie spielen nicht mehr mit ihren Freunden auf der Strasse, sodass sie keinen Kontakt zu Nachbarn mehr haben.»

Kinderlärm bedeutet Zukunft

In einigen Stadtteilen konnte eine unangenehme Konfrontation zwischen den Generationen jedoch vermieden werden. Dabei setzten die Verantwortlichen für den Neubau auf möglichst frühe und intensive Gespräche mit den Anwohnern. Der Stadtplaner Umezu Masayuki plädiert dabei für Vernunft: «Wo die Stimmen von Kindern nicht mehr zu hören sind, gibt es keine Zukunft.» Ihr Lärm sei ärgerlich, aber er sei die Verbindung zur Zukunft.

Im Tokioter Viertel Taishido wurde der Kindergarten von vorneherein so gebaut, dass weniger Kinderlärm nach draussen dringt. Die Nachbarn konnten bei der Entstehung mitreden und dadurch die Absichten von Kindergartenleiterin Reiko Kurita besser verstehen. «Ich wünsche mir, dass die Nachbarn sich über die Kinder freuen und in ihrer Mitte aufnehmen, damit die Kleinen sich angenommen fühlen», sagt Reiko Kurita.

Drei Jahre nach dem Bau gehört der Kindergarten von Taishido fest zur lokalen Gemeinschaft. Die Kinder beteiligen sich zum Beispiel am jährlichen Umzugsfest. Wenn die Kleinen mithelfen, den hölzernen Schrein mit der lokalen Gottheit durch die Strassen zu tragen, reagieren die Nachbarn so, wie es früher war: «Sind sie nicht süüüss?!», freut sich eine alte Frau über die Kinder.

Sendung: SRF 2 Kultur, Kultur Kompakt, 14.1.2015, 16:45 Uhr.

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