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Kunst «Das Internet ist die grösste Poesie der Menschheit»

Kenneth Goldsmith sucht die Poesie im Netz. Sein neustes Seminar «Wasting time on the Internet» hat in den USA für eine öffentliche Debatte gesorgt. Im Gespräch erklärt der Literaturprofessor weshalb planloses Surfen im Netz künstlerisches Potenzial hat.

Sie setzen sich an den Computer. Doch anstatt Ihre Theoriearbeit zu beginnen, öffnen Sie Ihren Browser. Dort klicken Sie zuerst auf Bilder von Kokosnüssen (neue Ferienfotos eines Facebookfreundes), ein Link führt Sie zu einem Artikel über Selfies von Koalabären und letztlich landen Sie bei einem Angebot für dicke Wintersocken. So könnte eine Lehrstunde bei Kenneth Goldsmith beginnen. Der Künstler versucht, seine Studenten für das planlose Surfen im Netz zu begeistern.

Dürfen Studenten fürs blosse Surfen belohnt werden?

Zur Person

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Legende: Oscar Turco

Kenneth Goldsmith (1961) ist ein amerikanischer Dichter und Künstler. Er gründete das audiovisuelle Archiv UbuWeb, unterrichtet an der Universität von Pennsylvania unter anderem das Seminar: «Zeit im Internet verschwenden». Goldsmith twittert unter @kg_ubu.

Kenneth Goldsmith hat das Internet früh entdeckt. Bereits 1996 begann er das grösste audiovisuelle Archiv Ubuweb für Avantgarde-Kunst im Netz aufzubauen. Mittlerweile wird seine Arbeit für die digitale Welt weitherum gerühmt: Er wurde vom Museum of Modern Art in New York als erster «Poet Laureate» ausgezeichnet, er trug seine Gedichte im Weissen Haus vor und besitzt ein Lehrauftrag an der renommierten University of Pennsylvania.

Sein jüngstes Seminar «Wasting time on the internet» sorgte für einen veritablen Medienwirbel. Die halbe USA fragte sich: Dürfen Studenten fürs blosse Surfen im Internet belohnt werden? Ist das eine wissenschaftliche Leistung? Für Goldsmith beruht der mediale Aufschrei auf einem grossen Missverständnis. Aber lesen sie selbst.

Herr Goldsmith, Sie haben sich kürzlich als den «langweiligsten Autor der Welt bezeichnet». Gibt es einen tieferen Sinn hinter Ihrer Langeweile?

Bereits bei den Pariser Unruhen 1968 wurden die Mauern mit dem Spruch versehen: «Lebe ohne tote Zeit!» Ein Aufschrei gegen die zunehmende Bürokratie, die jedem Bürger Lebenszeit stiehlt. Bürokratie sollte beseitigt, dafür mehr Freiräume im Alltag geschaffen werden. Wenn ich heutzutage Menschen dazu bringe, ihre «tote Zeit», die sie vor dem Bildschirm verbringen, kreativ zu nutzen, habe ich mein Ziel erreicht.

Was können Ihre Studenten von Ihnen lernen?

Ich hoffe, dass sie zum ersten Mal in ihrem Leben die Zeit, die sie vor dem Bildschirm verbringen, bewusst wahrnehmen. Irgendwann werden sie merken: Das hat ein künstlerisches Potential.

Wie hat die Öffentlichkeit auf Ihre Seminare reagiert?

Meine Seminare tragen provokative Titel. Die starke Reaktion der Medien ist voraussehbar. Was fehlt ist eine tiefere Auseinandersetzung mit den Ideen. Dahinter steckt mehr, als auf den ersten Blick erkennbar ist. Denn eigentlich bewirken meine Seminare das Gegenteil: Sie lehren, wie man verschwendete Zeit in einen kreativen Prozess umwandeln kann.

Meine Studenten schauen auf den Bildschirm, statt in ihre Seele.

Die Studenten müssen aus Ihrer Erfahrung im Netz einen Text produzieren ­– sei es ein Gedicht, ein Buch oder eine Kurzgeschichte. Wie bewerten Sie diese Resultate?

So wie alle Texte in einem Seminar. Wir schauen, wie wir den Ausdruck und die Form verbessern können. In anderen Worten, die Messlatte ist nicht höher oder tiefer gelegt als in jedem anderen Kurs für kreatives Schreiben. Der einzige Unterschied: Meine Studenten müssen auf den Bildschirm schauen statt in ihre Seele.

Wo holen Sie sich Ihre eigene Inspiration her?

Alles was wir machen, wenn wir es bewusst tun, kann uns inspirieren. Mein Denken folgt der Idee des Avantgarde-Künstlers John Cage. Seine Idee besagt, dass jedes Geräusch Musik sein kann. Ich würde diese Idee sogar noch erweitern: Jedes Wort ist Poesie, wenn es richtig eingesetzt wird. Und jede Minute, die man planlos im Internet surft, könnte die Grundlage für den nächsten grossen Roman sein.

Das Internet ist das grösste Epos aller Zeiten.

Durch das Internet und das Smartphone hat sich mittlerweile eine eigene Sprache entwickelt. Wann werden Emojis – etwa Smileys – und Abkürzungen – wie WTF – stärkeren Eingang in die Literatur finden?

Die Sprache passt sich ständig an unseren Alltag an. Sie ist kein statisches Objekt, steht niemals still. Der umgangssprachliche Gebrauch der Sprache wie zum Beispiel Emojis hat unsere Kommunikation in einem unvorstellbaren Masse verändert. Nun stellt sich die Frage, ob Schriftsteller oder Kritiker diese Entwicklung als «literarisch» klassifizieren. Einige tun dies bereits, doch viele bleiben immer noch skeptisch bezüglich dieser Entwicklung.

Welche Bedeutung hat das Netz für Sie?

Das Internet stellt für mich das grösste Stück Poesie der Menschheit dar. Man kann es zwar Seite für Seite lesen, aber in seiner Gesamtheit gesehen, ist es eigentlich eine Autobiografie unserer Gesellschaft.

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