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Kunst Fotomuseum Winterthur macht das Web zum Ausstellungsraum

Die Möglichkeiten digitaler Verbreitung von Bildern und Texten fordern die Ausstellungsmacher im Fotomuseum Winterthur. Sie reagieren mit einem neuen Format: Für «Situations» nutzt das Museum seine Ausstellungsräume – und das Internet. Damit will es der Entwicklung der Fotografie gerecht werden.

Anfang April wagte das Fotomuseum Winterthur ein neues Ausstellungsformat: «Situations» findet sowohl online als auch vor Ort statt. Zu diesem Schritt entschied sich die Leitung des Fotomuseums, um rascher und flexibler auf fotografische und kulturelle Entwicklungen reagieren zu können.

Neue Wege durch digitales Denken

Der Co-Direktor Thomas Seelig ist vom neuen Format überzeugt: «Wenn wir digital zu denken beginnen, eröffnen sich gänzlich neue Wege. Wir versuchen so, zu einem neuen Verständnis von Fotografie und ihrer Verbreitung zu gelangen – über 3D-Prints, elektronische Texte oder Videos.»

nackter Mann, Rüchenansicht
Legende: Situation #8: Aktuelle Fotografie als Karikatur klassischer Skulptur. ZVG / Fotomuseum Winterthur , Hal Fischer

Nach dem Launch im April folgte am 8. Mai die zweite Runde von «Situations». Mit den Fotografen Joëlle Lehmann und Hal Fischer starten die Nummern #7 und #8. Die sogenannten «Situations» können wenige Stunden oder mehrere Monate dauern und werden durchnummeriert.

Eine «Situation» kann ein fotografisches Bild sein, ein Film, ein Text, ein Online-Interview, ein Screenshot, eine Fotobuchpräsentation, eine Projektion, eine Skype-Vorlesung oder eine Performance. Entlang von kuratierten Tags und Clustern wie etwa «Sehende Maschinen» oder «Beziehungen» werden die «Situations» präsentiert.

Neues Konzept, neue Raumgestaltung

Auch die bisherigen Sammlungsräume wurden umgestaltet. Neu führt ein schmaler, dunkler Gang vom ersten Ausstellungsraum in einen stark abgedunkelten Raum für Filmvorführungen, wo Sitzsäcke zum verweilen einladen. «Mit dem neuen Konzept versuchen wir – als Museum traditionell eine eher statische Institution – die dem Netz eigene Dynamik aufzunehmen.»

Diese Dynamik zeigt sich auch beim Personal des Museums. Seit kurzem gehört ein sogenannter Digital Curator zum Team. Getrennte Arbeitsbereiche gibt es kaum. Austausch und gemeinsames Denken sind gefragt.

Kooperation mit «20 Minuten Friday»

Ausstellungshinweis

Box aufklappen Box zuklappen

«Situations» #7 und #8 findet vom 8. Mai bis zum 7. Juni 2015 statt.

Ungewohnte Wege geht das Museum zudem in Form von Kooperationen. Aktuell sind zehn Bildgeschichten der jungen Berner Fotografin Joëlle Lehmann aus der Serie «Home Stories» zu sehen, die durch ein Tableau zahlreicher Detailaufnahmen ergänzt werden. Sie sind Teil einer Reportage über die Lebensumstände einer jungen Generation von Schweizerinnen und Schweizern.

Anstelle des üblichen Ausstellungskataloges des Fotomuseums erscheint ein Spezialmagazin von «20 Minuten Friday». Die Kuratoren des Fotomuseums und die Blattmacher würden im Grunde an denselben Themen arbeiten, so Seelig. Einzig die Art des Zugangs unterscheide sich.

Gamer als Fotografen

Screenshot aus «Tomb Rider»
Legende: Situation #6: In-Game-Fotografie von K-Putt aus dem Spiel «Tomb Rider». ZVG / Fotomuseum Wintertur

Auch Gamer holt «Situations» ins Boot. Das Projekt In-Game Outsiders – Situation #6 – fordert dazu auf, Screenshots aus Computerspielen einzureichen. Denn zahlreiche Games verfügen über spezielle Features, um die fantastischen Spielwelten zu fotografieren. SITUATION #6 vermittelt damit eine neue Art fotografischer Realität.

Ein Wermutstropfen

Die virtuelle Erweiterung im Fotomuseum Winterthur hat seinen Reiz, ist aber noch nicht ganz ausgeschöpft. Bei Film «Junior War» etwa, der «Situation» #1, sind online einzig vier Filmstills zu sehen. Das dazugehörige Video ist nur in der Ausstellung zu sehen.

Thomas Seeligs Erklärung: «Das gesamte Video-Archiv Ryan Trecartins ist auf Vimeo verfügbar, ausser «Junior War». Deshalb zeigen wir auch nur Stills: Man muss nach Winterthur kommen um den Film zu sehen. Wir achten darauf, dass es – trotz der Möglichkeiten im Netz – Erfahrungen gibt, die man nur in der Ausstellung vor Ort machen kann.»

Auch die virtuelle Verknüpfung mit bisher erfolgreichen Online-Formaten lässt etwas zu wünschen übrig. So ist der reichhaltige Blog «Still Searching», der seit drei Jahren bis zu 5000 Leser und Leserinnen pro Tag erreicht, getrennt von «Situations» platziert.

Weg mit dem vertrauten Erklärungstext

Je länger das neue Format dauert und je mehr «Situations» hinzukommen, desto reichhaltiger wird das ganze Projekt. Denn entlang der Cluster und Tags werden ständig neue Bezugnahmen möglich.

Die Reaktionen auf «Situations» sind bisher überwiegend positiv. Einzig das ältere Publikum vermisst erklärende Hilfestellungen wie den vertrauten Saaltext. Informationen sind zwar verfügbar. Doch die Wege zu deren Beschaffung sind teilweise ungewohnt und müssen erst eingeübt werden. Das Museum bietet damit zwar eine Lesehilfe, doch verzichtet es auf den einen, erklärenden Text, die eine richtige Lesart. Damit gibt es einen Teil seiner Deutungshoheit ab und baut eine Brücke zu jüngeren Generationen.

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