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Kunst «Viele haben verlernt, sich mit dem Tod auseinanderzusetzen»

In seinem neuen Fotoband erkundet Christian Schwarz unser Verhältnis zur Zeit. Seine Porträts zeigen ältere Menschen, die eine Aufnahme von sich als junge Erwachsene in die Kamera halten. Damit konfrontiert er uns mit der eigenen Vergänglichkeit.

SRF: Sie nennen Ihren Fotoband «Du liebe Zeit». Wie viele der Porträtierten stellten ein «Ach» vor diesen Ausspruch, als Sie sie anfragten?

«Du liebe Zeit»

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Christian Schwarz hat 267 Gesichter fotografiert – und dies gleich doppelt: Jede abgelichtete Person brachte eine Aufnahme aus früheren Tagen zum Shooting mit. Durch die so geschaffene «Gleichzeitigkeit» weit auseinanderliegender Augenblicke gelang es dem 61-Jährigen, den Fluss des Daseins ins Bild zu bannen.

Christian Schwarz: Keiner! (lacht) Es überraschte mich selbst, aber ich erhielt nur zwei Absagen – und erst noch aus anderen Gründen, nicht weil ich sie mit ihrem Alter konfrontiert hatte. Alle anderen Personen, die ich bat mitzumachen, waren gerne bereit dazu.

Das ist nicht selbstverständlich. Immerhin «zwingt» sie die Teilnahme am Buch, sich mit der Endlichkeit ihres Lebens auseinanderzusetzen.

Das stimmt. Viele Menschen haben verlernt, sich mit dem Tod auseinanderzusetzen.

Und wie stehen Sie dazu?

Ich hadere nicht und sage immer: «Der Tod gehört zum Leben, und das Leben ist tödlich.» Meine Freundin verstarb mit 46. So tragisch solche Schicksalsschläge sind, du musst sie akzeptieren. Ich habe ein entspanntes Verhältnis zur Zeit.

Hat Sie diese Erkenntnis auf die Idee für das Buch gebracht?

Nein, das war ein Produkt des Zufalls. Ich begann mich stärker mit der Zeit zu beschäftigen, nachdem mir ein Bekannter in einer Bar ein altes Porträtfoto gezeigt hatte. Ich fragte ihn, wer darauf abgebildet sei. Er antwortete: «Ich» – und er fing an, mir seine Lebensgeschichte zu erzählen. Da packte mich das Thema, zumal ich mich als Chronist meiner Zeit verstehe.

Als Jugendlicher denkt man, man sei so erwachsen und wisse eigentlich schon alles.

Welche Erfahrungen haben Sie im Rahmen des Projekts gemacht?

Buchhinweis

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Christian Schwarz: «Du liebe Zeit», WOA Verlag, Zürich 2015

Ich merkte, wie der Zeit-Gedanke bei vielen etwas auslöst. Das kann man im Buch nachlesen, denn alle Porträtierten hatte ich ja aufgefordert, ihre Erkenntnisse aufzuschreiben. Manche notierten Spontanes, viele aber überlegten zuerst länger. Das hat mich fasziniert und berührt.

Im Buch befindet sich ein Porträt von Ihnen, das Sie ebenfalls heute und damals zeigt. Was kam Ihnen in den Sinn, als Sie sich den jungen Christian Schwarz buchstäblich wieder vor Augen führten?

Ich muss vorausschicken: Eigentlich wollte ich im Buch gar nicht vorkommen. Ich empfand mich als zu unwichtig. Erst nach Zureden habe ich mich entschlossen, mit dem Selbstauslöser auch ein Foto im gleichen Stil von mir zu schiessen. Dabei erinnerte ich mich, wie ich mit 18, 20 gemeint hatte, die Welt verändern zu können. Als Jugendlicher denkt man, man sei so erwachsen und wisse eigentlich schon alles. Mit zunehmendem Alter jedoch realisiert man, dass das gar nicht stimmt. Was gleichzeitig nicht bedeutet, man wisse heute mehr… (lacht)

Alle wollen anerkannt und geliebt werden. Da besteht die Gefahr, sich fremd bestimmen zu lassen.

Wenn Sie könnten, was würden Sie denn dem einstigen Jüngling rückblickend raten?

«Hab‘ keine Angst vor dem Leben!» Alle wollen ja anerkannt und geliebt werden. Da besteht die Gefahr, sich fremd bestimmen zu lassen, damit dies gelingt. Zuerst musst du aber deine eigenen Erwartungen erfüllen, dir entsprechen und dich akzeptieren. Das ist nicht immer einfach.

Sie sprechen aus Erfahrung?

Es braucht ein Urvertrauen zu dir selber. Erst recht in schwierigen Zeiten. In meiner Jugend wusste ich nicht genau, was ich wollte. Das entwickelte sich erst nach und nach. Ich hatte aber die Kraft, mir immer treu zu bleiben. Dabei half mir das Glück. Immer wieder fiel mir etwas zu im Leben – wie jetzt mit diesem Buch.

Sie sind gelernter Möbel-Restaurateur und kamen erst mit 38 zur professionellen Fotografie. War das auch Zufall?

Bis zu einem gewissen Grad schon, denn lange traute ich mir die Fotografie gar nicht zu. Ich hatte ja keine Kunstgewerbeschule absolviert und dachte, ich sei zu dumm dafür. Doch dann machte ich aus einer Laune heraus ein paar Aufnahmen und fragte mich: Wer, wenn nicht ich selber, ist der Massstab meines Schaffens? Das war der Anfang.

Viele sprechen davon, im Hier und Heute zu leben, doch fast keiner macht’s.

Sie eigneten sich das Wissen selbst an?

Ja, ich legte einfach los, getrieben von Neugierde. Zu Beginn hatte ich keine Ahnung, aber ich gab mir selber die Chance, Fotograf zu werden. Und heute spüre ich, dass meine Bücher – wie jetzt «Du liebe Zeit» – vielen Menschen Freude bereiten. Das ist wunderbar.

Was soll Ihnen die Zeit als Nächstes bringen?

Ich verfolge zwei Ideen für Fotobände, die sich mit den Themen «Kindheit» und «Schule» auseinandersetzen. Mehr möchte ich allerdings nicht verraten. (lacht) Ich finde es wichtig, Jetzt-Momente zuzulassen. Viele sprechen davon, im Hier und Heute zu leben, doch fast keiner macht’s. Dabei ermöglicht es dir, offen gegenüber der Welt zu bleiben und nicht von der Zeit bestimmt zu werden. Diese Gabe möchte ich nicht verlieren.

Video
Du liebe Zeit – die Vergänglichkeit im Auge des Betrachters
Aus Kulturplatz vom 14.09.2016.
abspielen. Laufzeit 5 Minuten 12 Sekunden.

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