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Zurück an den Anfang: Prähistorische Kunst
Aus Kontext vom 18.04.2021. Bild: KEYSTONE / EPA / CAROLINE BLUMBERG
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Prähistorische Kunst Die Picassos der Steinzeit

Uralte Höhlenmalereien und kleine Elfenbeinstatuen aus der Eiszeit beweisen, wie wenig wir künstlerisch in den letzten Jahrtausenden dazugelernt haben.

Ziemlich viele, ziemlich wilde Tiere leben friedlich zusammen an den Wänden der berühmten Höhle von Chauvet. Der gemalte «Zoo» mit Nashörnern, Mammuts, Löwen, Bären, Hyänen und vielen anderen Viechern ist beeindruckend schön und unglaublich alt. Die Malereien in der französischen Höhle, die erst 1994 entdeckt wurden, gehören mit ungefähr 30'000 Jahren zu den ältesten der Welt.

Diese Datierung wird allerdings angezweifelt: Die Radiokarbonmethode kann bloss das Alter der Holzkohle bestimmen. Wann die Bilder – mit vielleicht uralter Holzkohle – tatsächlich gemalt wurden, bleibt unklar.

Höhlenmalerei mit detailliert gezeichneten Tieren.
Legende: Uralte Bilderpracht: Das Alter der Malereien in der Höhle von Chauvet wird auf etwa 30'000 Jahre geschätzt. Getty Images / Heritage Images / Photo by Fine Art Images

Und unterdessen wurden weitere, weit ältere Malereien entdeckt: Die Pustelschweine auf der Insel Sulawesi sollen 45'500 Jahre alt sein.

Mit der Entdeckung der indonesischen Malereien wird eine gern geglaubte These hinfällig: dass die Kunst in Europa erfunden worden sei, so wie es die Höhlenmalereien von Chauvet, Altamira und Lascaux nahelegen.

Die eurozentrische Nabelschau findet mit den Entdeckungen der asiatischen Schweinchen ein Ende. Und es ist bei weitem nicht die einzige These, die durch prähistorische Kunst ins Wanken gerät, revidiert und über Bord geworfen werden muss.

Entdeckungsgeschichte voller Knalleffekte

1868 fanden Jäger auf der Suche nach einem verlorenen Hund die spanische Höhle Altamira mit ihren fantastischen Bisons, Pferden und Hirschen. Die Fachwelt von damals hielt die Höhlenmalereien allerdings nicht für prähistorische Kunst, sondern für zeitgenössische Schmierereien.

Über Jahrhunderte waren Höhlenmalereien wohl entdeckt, aber nicht als prähistorisch identifiziert worden. Schliesslich hatte Gott die Welt erschaffen, für eine Vorzeit war kein Platz.

Kunst oder Schmiererei?

Doch nicht nur der Kreationismus lieferte gute Gründe für Zweifel. In der damaligen Fachwelt hielt man sich an Fortschrittsglauben und Evolutionismus. Beide lehrten, dass unsere Vorfahren als tumbe Toren durch die Savanne und die Eiszeit gestolpert waren. Wie also hätten sie so wunderbare Kunst erschaffen können?

Doch diese Sichtweise änderte sich allmählich. Als 1901 in der französischen Dordogne ähnliche Höhlenmalereien auftauchten, revidierte beispielsweise der anerkannte Prähistoriker Émile Cartailhac sein Urteil mit dem berühmten Aufsatz «Mea Culpa d’un sceptique».

Gemnalte Tiere und Menschen
Legende: Mit gekonnter Leichtigkeit gemalt: Aquarell nach einer 10'000 Jahre alten Jagdszene in der spanischen Cueva Mas d’En Josep, Valtorta. Frobenius-Institut

Von wegen primitiv

Die Höhlenmalereien von Altamira als prähistorisch anzuerkennen, bedeutete einen Neubeginn. Es war der Abschied vom Evolutionismus und seinen kulturellen Stufenmodellen, die zuunterst «primitive Naturvölker» einzeichneten und zuoberst moderne, westliche Kulturen als höchstentwickelte Zivilisationen zeigten.

Altamira bewies: Wir Modernen sind nicht die Krone der Schöpfung, bereits vor Jahrtausenden gab es ziemlich begabte Menschen. Das zeigen auch die ältesten bisher gefundenen Elfenbeinstatuetten von der schwäbischen Alb.

Stilisierte Figuren

Bis zu 40'000 Jahre alt sind die «Venus vom Hohlefels» und das Wildpferd aus der Vogelherd-Höhle. Das Pferdchen und die Venus sind so klein, dass sie in je eine Faust passen. Auffällig ist ausserdem: Beide sind deutlich stilisiert. Die Wildpferde dieser Zeit hatten kräftigere Hälse und die Frauen wohl kleinere Busen.

Die Künstlerinnen oder Künstler, die die Statuetten schufen, folgten also keinem Naturalismus, sondern nutzten expressive Gestaltungsmittel, um zur Essenz der Figuren zu gelangen.

Vielleicht waren die Statuetten Glücksbringer. Vielleicht boten Höhlenmalereien als Votivbilder Schutz oder markierten Orte der Spiritualität – vielleicht aber auch nicht.

Wenn es um Interpretationen der Bilder und Figuren geht, verstummen Archäologinnen und Archäologen mit Bedacht. Denn sie wissen es nicht. Fast alles, was über die reine Anschauung hinausgeht, ist Spekulation. Es fehlen Beweise.

Abenteuer Forschungsreise

Einer, der die Bedeutung der frühen Kunst erforschen wollte, war Leo Frobenius. Der deutsche Abenteurer und Ethnologe bereiste mit Künstlerinnen und Künstlern zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Welt, sammelte Felsbilder und Höhlenmalereien aus Afrika, Australien oder Skandinavien.

Leo Frobenius: Forscher und Sammler

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Legende: Wikimedia / George Grantham Bain Collection

Der deutsche Ethnologe und Afrika-Forscher Leo Frobenius (1873 bis 1938) war eine schillernde und umstrittene Persönlichkeit. Der Schulabbrecher und Autodidakt gründete 1898 in Berlin ein «Afrika-Institut» und unternahm ausgedehnte Forschungsreisen quer durch den Kontinent, unter anderem nach Kongo, Nigeria oder Kamerun. Frobenius sammelte Mythen, Kunstwerke und ethnografische Artefakte, um die Historie Afrikas zu erforschen.

Finanziert hat der oft klamme Frobenius sein Institut und die Expeditionen durch den Verkauf von Kunstwerken, Masken und Artefakten an deutsche Museen. Das Hamburger Völkerkundemuseum schloss mit Frobenius einen Vertrag ab, der dem Forscher pauschal zehn Reichsmark pro zurückgebrachtes Stück zusagte. Als Frobenius bei der Rückkehr 8'000 Artefakte ablieferte, entging das Haus nur knapp dem Bankrott. Später förderten der deutsche Kaiser und andere Mäzene seine Expeditionen.

Frobenius interessierte sich besonders für prähistorische Felsbilder und liess sie vor Ort abzeichnen. Seine Felsbildsammlung erregte in den 1930er-Jahren internationales Aufsehen. Gleichzeitig begrüsste der deutschnationale Frobenius die Machtübernahme der Nationalsozialisten. Er passte mit seinen Forschungen aber nicht nahtlos in die NS-Ideologie. Differenzen ergaben sich insbesondere durch seine Wertschätzung «primitiver» Kulturen und die Ablehnung des Begriffs Rasse. 1938 starb Leo Frobenius.

Rund 8'000 Kopien von Felsbildern blieben in seinem unterdessen in Frankfurt angesiedelten Institut erhalten. Ab den 1960er-Jahren verlor die Sammlung ihren Wert als Dokumentation prähistorischer Felskunst. Farbfotografien und später digitale Technologien boten akkuratere Möglichkeiten.

Erst in den jüngsten Jahren erhielt Frobenius' Felsbildsammlung neue Aufmerksamkeit. Eine Auswahl ist noch bis zum 11. Juli in der Ausstellung «Kunst der Vorzeit. Felsbilder» im Zürcher Museum Rietberg zu sehen.

Abstrakte Kunst auf Felsen

Frobenius' Künstlertrupp kopierte die Felsbilder eins zu eins auf Leinwände. Aus prähistorischer Kunst, die an Felswände gebunden war, wurden transportierbare, ja sogar gerahmte Kunstwerke, die in Ausstellungen gezeigt wurden.

Die Ausstellungstournee von Frobenius' gesammelten Felsbildern zog durch die Hauptstädte der Welt und erschütterte in den 1930er-Jahren die Kunstwelt.

Denn die prähistorischen Felsbilder zeigten nicht nur ausdrucksstarke Tiere und Menschen und Jagdszenen voller Bewegung und Dynamik. Sie zeigten auch die Formensprache der Abstraktion: Linien, Flächen und organische Formen.

Vier aufgereihte ovale Formen.
Legende: Neben Tieren und Menschen zeigen die prähistorischen Bilder auch viele abstrakte Formen: Was diese «liegenden Formlinge» darstellen, ist heute unklar. Frobenius-Institut

Lernen von den Alten

Die Ästhetik der uralten Bilder traf auf eine moderne Generation von Künstlerinnen und Künstlern, die Ähnliches suchten. Bereits um 1900 hatten ozeanische Masken und sogenannte «Stammeskunst» Maler wie Paul Gauguin, die Kubisten und viele andere inspiriert. Nun wirkte die prähistorische Kunst in einer zweiten Welle ähnlich.

Picasso soll in Lascaux ausgerufen haben: «Wir haben nichts dazugelernt!» Joan Miró meinte, «die Malerei befindet sich seit dem Höhlenzeitalter im Niedergang.» Und Alberto Giacometti notierte 1946 in sein Notizbuch: «Zeichnungen der Höhlen. Zeichnungen der Höhlen, Höhlen, Höhlen. Da und nur da ist Bewegung gelungen.» Tatsächlich ähneln Giacomettis schnurdünne Menschen den prähistorischen Bildern, die ebenfalls abstrahierend Bewegung im Raum festhalten.

Pollock, Krasner und Miró als Nachfahren

Weitere Verwandtschaften lassen sich quer durch die Kunstgeschichte finden: Die vielen Schichten, die Tiere und Menschen in Höhlenmalereien und Felsbildern übereinanderlegen, finden ihren Widerhall in Jackson Pollocks Malverfahren. Auch manche Bilder der abstrakten Expressionistin Lee Krasner ähneln uralten Bildern.

Insbesondere die abstrakten, biomorphen Formen, die zahlreiche Künstler der Moderne entwickelten, scheinen prähistorische Vorbilder zu haben. Die Formensprache eines Joan Miró, des Künstlerpaars Sophie Taeuber-Arp und Hans Arp oder die «Blps» des US-amerikanischen Künstlers Richard Artschwager weisen erstaunliche Ähnlichkeiten auf.

Video
Aus dem Archiv: Frobenius zwischen Kunst und Archäologie
Aus Kulturplatz vom 13.04.2016.
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Eine Beeinflussung der Moderne durch prähistorische Kunst ist nur in Einzelfällen belegt. Die augenfälligen Parallelen lassen aber zumindest den Umkehrschluss zu: dass «modern» wirkende Prinzipien von Komposition, Bildaufteilung und Abstraktion bereits unseren Vorfahren vor Tausenden von Jahren geläufig waren.

So viel Abstraktion so früh – das hatte Auswirkungen nicht nur auf die Kunst, sondern auch auf die Kunstgeschichte. Jahrhundertelang verpackte sie alles fein säuberlich in einander ablösende Epochen, mit einer klaren Entwicklungslinie hin zur Abstraktion. Die abstrakten Elemente der prähistorischen Malerei machen auch diese Entwicklungsvorstellung unhaltbar.

Schon immer malte der Mensch abstrakt

Der deutsche Kunsthistoriker Horst Bredekamp sprach 2016 auf einer Tagung von der «problematischen ‹Moderne› prähistorischer Kunst» und kam im Deutschlandfunk zum Schluss: «Wenn man sich dieses Szenario genau durchdenkt, dann ist die Antike und deren Nachfolgeschaft ein Sonderfall einer Kunst, die 80’000 Jahre lang immer modern war.»

Von den griechischen Statuen bis zu Renoirs duftigen Bildern wäre alles bloss eine Ausnahmeerscheinung, eine kurze Epoche des Figürlichen. Vorher und nachher herrschte eine Kunst vor, die Abstraktion selbstverständlich pflegte, kannte und als Ausdruck nutzte.

Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 19.3.2021, 09:03 Uhr.

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