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Literatur Auf den Spuren der Opfer der Roten Khmer

An den Bürgerkrieg im Kambodscha der 1970er- Jahre, an die Roten Khmer, denkt hierzulande fast niemand mehr. Die Kanadierin Madeleine Thien macht in ihrem Roman «Flüchtige Seelen» jetzt deutlich, wie tief die offenen Wunden der brutalen Diktatur bei den damals Betroffenen noch heute klaffen.

Unter der eisernen Hand des Diktators Pol Pot (1928-1998) und seiner neostalinistischen Roten Brigaden wurden Tausende von Menschen zu Tode gequält mit dem Ziel, eine neue Gesellschaftsordnung zu errichten: Einen primitiv-kommunistischen Bauernstaat. Die Autorin Madeleine Thien zeigt in ihrem neuen Roman «Flüchtige Seelen» auf, wie das grausame Regime unbescholtene Menschen, häufig auch Kinder, zu Sadisten und Mörder verbogen hat – indem sie Erinnerungen, Verletzungen und Demütigungen ihrer Figuren folgt.

Buchhinweis

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Madeleine Thien: «Flüchtige Seelen.» Aus dem kanadischen Englisch von Almuth Carstens, Luchterhand Verlag 2014.

Sanfte Sprache, harter Kern

Die Hauptfigur ist Janie, eine Neurowissenschaftlerin in Montreal. Ihr Institutskollege Hiroshi macht sich eines Tages auf die Suche nach seinem in Kambodscha verschollenen Bruder. Dieser war vor Jahrzehnten von Kanada aus als Entwicklungshelfer nach Kambodscha gereist. Hiroshis Initialzündung überträgt sich auf Janie. Die Immigrantin hatte damals ihre kambodschanischen Eltern und ihren Bruder verloren. Sie macht sich ebenfalls auf in ihre alte Heimat.

Thien geht mit beinahe zarter Sprache dem Wesen der Versehrung der Menschen nach. Demjenigen der Nachgeborenen wie deren Angehörigen. Sie erzählt vom Verlust und davon, wie viel Menschlichkeit auch nach langen Jahren möglich ist. Madeleine Thien, die malayisch-chinesische Wurzeln hat, stammt selbst nicht aus Kambodscha. Es gibt also keinen unmittelbaren autobiographischen Bezug. Umso erstaunlicher ist es, mit wie viel Empathie sie sich dem Thema angenommen hat.

Rückblenden aus der Zeit der Terrorherrschaft

Diese Spurensuche der Protagonisten nach Überlebenden in der Gegenwart überlagert die Autorin mit Rückblenden aus der Zeit der Terrorherrschaft. So werden wir Zeugen der unvorstellbaren Brutalität der Roten Khmer. Die Einwohner der Hauptstadt Pnomh Phen wurden damals in einer grossen Evakuierungsaktion aufs Land hinausgetrieben.

Die Menschen wurden systematisch indoktriniert und einer Gehirnwäsche unterzogen. Es wurde ihnen eingetrichtert, Besitz abzulegen, «dann folgten Familie und Freunde ...schliesslich unsere Loyalität und wir selbst. Wertlos oder kostbar, unwichtig oder geliebt, all unsere Schätze wurden gleich behandelt.»

Gibt es eine Rückkehr der toten Seelen?

Eine Frau aus der Heerschar derer, die aufs Land getrieben wurde, fragt einen Kontrollposten nach dem Weg. Nichts anderes. Ein Junge der Brigaden «erhob sein Gewehr und erschoss sie. Sie wurde nach hinten geschleudert, so dass ihr Schädel aufs Pflaster krachte.»

Der Roman erschöpft sich aber keineswegs in solchen schwer erträglichen Gewaltszenen. Die grossen Fragen, die er aufwirft stehen im Vordergrund. Sie lauten: Gibt es eine Rückkehr der toten Seelen und was geschieht mit den Überlebenden? Wie arrangiert man sich mit diesen Geistern der Vergangenheit? Wie können Menschen ein Stück weit ihre alte Identität wiedererlangen nach all dem erlittenen Unheil?

Die Geister lassen sich nicht ruhig stellen

Sendehinweis

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Am 21. September 2014 um 21.40 Uhr zeigt Reporter die DOK «Der verlorene Sohn» über einen Kindersoldaten der Roten Khmer, der nach Deutschland flüchten konnte.

Antworten sucht man vergeblich. Der Hauch des Todes umweht immer noch das Schlachtfeld. Er lässt Menschen wie Janie und Hiroshi nicht in Ruhe. Die unheilvolle Geschichte Kambodschas im 20. Jahrhundert wird noch längere Zeit von einer Generation auf die andere übertragen werden. Die Nachgeborenen müssen mit der Last leben, was ihren Angehörigen angetan worden ist.

Dieser Roman ist ein Angebot, sich dem nur schwer Vorstellbaren zu stellen. Geister lassen sich aber auch damit nicht ruhig stellen.

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