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Literatur «Bob Dylan ist ein Dichter und Song-Poet – wie Homer»

Mit Bob Dylan hat erstmals ein Popmusiker den Literaturnobelpreis erhalten. Für Dylan-Experte Martin Schäfer eine wichtige Wahl: Er sieht in Dylan den «Hauptschuldigen» dafür, dass Popmusik – im Falle Dylans «gesungene Poesie» – überhaupt ernst genommen wird. Überrascht hat ihn die Wahl trotzdem.

Waren Sie überrascht vom Entscheid des Nobelpreis-Komitees?

Zur Person

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Martin Schäfer, geboren 1948 im aargauischen Mellingen, war von 1976 bis 2013 Musikredaktor bei Radio SRF und gehörte zu den Mitbegründern des zeitgemässen Popradios in der Schweiz. Er schreibt für die NZZ und lehrt Popgeschichte in Basel und St. Gallen.

Martin Schäfer: Ja, der Entscheid ist überraschend gekommen. Vor ein paar Jahren hätte man eher damit gerechnet. Dass es doch noch zustande gekommen ist, überrascht – aber es freut!

Anerkennung für diese Art von musikalischer Poesie ist wichtig. Das ist im Literaturbetrieb vergessen gegangen: dass Literatur und Musik zusammengehören. Dylan hat das wieder möglich gemacht. Das ist sein ganz grosser Verdienst.

Der Entscheid ist demnach gerechtfertigt?

Absolut! Dylan ist natürlich nicht Schriftsteller im strengen Sinne, aber er ist ein Poet, ein Dichter, ein Song-Poet eben. Wie Homer. Dichtung war ja ursprünglich etwas Mündliches. Und Dylan gehört zu den Leuten, die im Laufe der letzten 50, 60 Jahre, gesungene Poesie mit Erfolg verbreitet haben.

Insofern ist er der «Hauptschuldige» dafür, dass populäre Musik überhaupt ernst genommen wird. Vorher war das nicht der Fall.

Was ist der literarische Wert seiner Texte?

Er ist mehr als ein geschickter Wortschmied. Er kann mit Worten umgehen, wie vor ihm in der populären Kultur kaum einer. Er hat eine Komplexität, eine persönliche Authentizität, Intimität – er hasst wahrscheinlich das Wort «Psychedelisch», aber auch das spielt eine Rolle.

Seine grossen Vorbilder aus der Musik waren Blues- oder Country-Musiker wie Woody Guthrie, Robert Johnson, Hank Williams. Das waren jedoch Poeten aus Versehen. Bob Dylan war absichtlich Poet. Deshalb darf man seine Vorbilder ausserhalb der Musik nicht vergessen: Da waren die ganzen Beat-Poeten – besonders in Dylans zweiter Schaffensphase. Diese surrealistischen, poetischen, von Allen Ginsberg her inspirierten Phase, in der er eine wirklich neue Art von Popsongs geschrieben hat.

Das Nobelpreis-Komitee würdigt besonders Dylans letzte Schaffensphase. Wieso?

Ab 1997 findet Dylan eine völlig neue Schreibweise, nach dem Prinzip des Albums «Love and Theft» von 2001: Man liebt etwas und man stiehlt es. Ein grosser Dichter, und ich würde Dylan zu den grossen Dichter zählen, nimmt etwas und arbeitet es um, macht etwas Neues daraus. Die grossen Komponisten haben auch alle voneinander gelernt und gestohlen. Das ist weder schockierend noch neu, das ist eine hochliterarische Arbeitsweise.

Dass das Komitee im Speziellen sein «Alterswerk» würdigt, seine neue Schreibweise, finde ich sehr schön. Das ist nicht mehr der junge, verrückte Dylan, sondern der alte, verrückte Dylan. Und der macht nochmals etwas ganz anderes.

Gibt es noch andere Anwärter aus der Musik, die den Preis verdient hätten?

Leonard Cohen. Er ist an erster Stelle Dichter und hat nach dem Vorbild von Dylan angefangen, seine Texte zu singen. Und natürlich Joni Mitchell. Leider kennen sie nicht so viele Leute wie Bob Dylan, aber von ihrer Bedeutung her, als Dichterin und als Musikerin, ist sie absolut vergleichbar.

Welche Songs muss man hören, um Dylans Qualität als Literat zu erfahren?

Es gibt die einfacheren Songs, und die sind nicht schlechter. Aber von den komplexeren Songs: «Visions of Johanna» oder «Simple Twist of Faith», ein wunderbarer Song. Und von den neueren Songs: «Ain't Talkin'».

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