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Christian Gasser über Ralf Königs «Vervirte Zeiten»
Aus Kultur-Aktualität vom 18.02.2021.
abspielen. Laufzeit 2 Minuten 35 Sekunden.
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Comic «Vervirte Zeiten» Ein Comic für jeden Tag der Pandemie

Der deutsche Comic-Zeichner Ralf König hat von März bis Oktober täglich einen Comic-Strip auf Facebook gepostet. So witzig und so wahrhaft hat kaum jemand das erste Corona-Jahr geschildert. Nun gibt es die gesammelten Corona-Comics als «Vervirte Zeiten» in Buchform.

Man stelle sich das vor: Konrad und Paul, Königs berühmtes schwules Paar, im Lockdown. Eingesperrt in ihrer Wohnung tritt ihre Unterschiedlichkeit so deutlich zutage wie nie zuvor. Konrad ist der kultivierte, vernünftige Klavierlehrer; Paul schreibt Schwulen-Pornos und ist von seiner Libido getrieben.

Comic Ausschnitt mit Mann am Fenster und Mann am Kalvier
Legende: Konrad und Paul könnten nicht unterschiedlicher sein. Der gemeinsame Lockdown wird zur Challange. Ralf König

Jahrzehntelang hat sich Konrad mit Pauls Polygamie arrangiert – als dieser jedoch dem scharfen Filialleiter des nahen Supermarkts ein Penisbild schickt, platzt dem ruhigen Konrad zum ersten Mal so richtig der Kragen. Diese ungewohnt heftigen Reibereien zwischen Konrad und Paul sorgen für Spannung – und für zusätzliche Komik.

Vier Panels pro Tag

Corona-Tagebücher: Das wurde im letzten Frühjahr zu einer neuen künstlerischen Gattung. Literaten, Musikerinnen, Zeichner, Fotografinnen schenkten uns ihre täglichen Impressionen und Reflexionen – oft mit zweifelhaftem künstlerischen Erfolg.

Anders «Vervirte Zeiten»: In ein paar Jahren wird das eines dieser Bücher sein, nach dem wir greifen, um uns zu erinnern, wie das so war, in diesem ersten Corona-Jahr.

Männer sitzen auf dem Sofa
Legende: Fast eine Zeitkapsel: Was Konrad und Paul umtreibt, spiegelt die Stimmung der aktuellen Corona-Lage. Rohwolt Verlag / Ralf König

Wie viele andere begann auch Ralf König sein Corona-Projekt eher zufällig, als Beschäftigungstherapie – und nicht zuletzt auch, weil ihn die anderen Themen, mit denen er sich gerade beschäftigte, plötzlich so belanglos dünkten.

Die ersten auf Facebook geposteten Strips gingen viral, die begeisterten Reaktionen ermunterten König weiterzufahren – und gut sieben Monate lang stellte er täglich vier Panels online.

Comics in Echtzeit

Der Clou von «Vervirte Zeiten» ist, dass König nicht seinen eigenen Alltag und seine persönliche Befindlichkeit schilderte, sondern seine Corona-Beobachtungen im vertrauten fiktionalen Kosmos um Konrad und Paul verarbeitete. In Echtzeit sozusagen.

Vor allem Paul leidet unter dem Ausgehverbot, das faktisch einem Sexverbot gleichkommt; er kompensiert das, indem er rund um die Uhr am Telefon hängt, mit seinen Freunden und Vertrauten skypt und zoomt. Seiner Libido gibt er Auslauf, indem er seine Begierde auf den Filialleiter projiziert.

Dieser Filialleiter, er heisst übrigens Knaller mit Nachnamen, wird dank einiger Posts von Paul bald zum begehrtesten Mann Kölns, gleichermassen von Männern wie Frauen angeschmachtet … – und Pauls Obsession nimmt krankhafte, aber hochkomische Züge an.

Lockdown-Sitcom

Natürlich ist «Vervirte Zeiten» fragmentarischer angelegt als Königs andere Comics, da er sich von Tag zu Tag treiben liess und das reale Geschehen seinen Comic steuerte. «Vervirte Zeiten» funktioniert deshalb nicht wie ein durchgeplanter Roman, sondern eher wie eine improvisierte Sitcom. Genau das macht den Charme von Königs Corona-Aufzeichnungen aus.

König ist indes weder ein Kommentator der Aktualität, noch reiht er erwartbare und stereotype Lockdown-Scherze aneinander; König ist ein Erzähler. Aus den ersten Situationen entwickeln sich nach und nach Geschichten und Running Gags, die sich immer schlüssiger miteinander verknüpfen, und in denen die eher beklemmende Alltagsrealität in komische Fiktion verwandelt wird.

Comic mit Sprechblasen und Mensch auf Sofa
Legende: Pure Lebensfreude geht anders: Die Pandemie und den dazugehörigen Alltag. Facebook / Ralf König

Ein weiterer Vorteil des vertrauten Figurenensembles mit Konrad und Pauls homo- und heterosexuellem Umfeld, ist die Vielfalt an Perspektiven; König tischt uns nicht einfach seinen Blick auf Corona auf, sondern betrachtet die Situation durch die Augen der vielen Figuren, die alle anders reagieren.

Heute hat sich der sogenannte Pandemie-Blues ausgebreitet, und die wenigsten wollen über Corona lachen. Aber vielleicht wäre Humor die gesündeste Reaktion auf die aktuelle Situation – und das macht «Vervirte Zeiten» so wertvoll: Ralf König gelingt es, uns ohne besserwisserische Kritik oder satirische Boshaftigkeit mit Lockdown-Geschichten bestens zu unterhalten.

Radio SRF 2 Kultur, Kultur aktuell, 18.2.2021, 7.06 Uhr

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